SG Nürnberg

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Zitieren als:
SG Nürnberg, Beschluss vom 12.06.2008 - S 19 AS 589/08 ER - asyl.net: M14091
https://www.asyl.net/rsdb/M14091
Leitsatz:

Besitzt ein Ausländer aufgrund einer selbstständigen Erwerbstätigkeit ein Aufenthaltsrecht, ist der Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ausgeschlossen; das gilt auch für ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht nach Beendigung der selbstständigen Erwerbstätigkeit.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Arbeitssuche, Unionsbürger, selbstständige Erwerbstätigkeit, Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit, Scheinselbstständigkeit, Schwangerschaft, Gemeinschaftsrecht, Diskriminierungsverbot, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGG § 7 Abs. 1 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2; EG Art. 43; EG Art. 39
Auszüge:

Besitzt ein Ausländer aufgrund einer selbstständigen Erwerbstätigkeit ein Aufenthaltsrecht, ist der Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ausgeschlossen; das gilt auch für ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht nach Beendigung der selbstständigen Erwerbstätigkeit.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der nach § 86b Abs. 2 SGG zulässige Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung ist begründet.

Ein Anordnungsgrund besteht, weil die Antragstellerin über keinerlei Einkommen verfügt.

Auch ein Anordnungsanspruch besteht im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang. Die Antragsgegnerin hat unterstellt, die Antragstellerin könne ihr Aufenthaltsrecht lediglich aus der Arbeitsuche herleiten, sodass die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorlägen. Das Gericht geht davon aus, dass aus der vorangegangenen selbstständigen Erwerbstätigkeit zumindest für eine Übergangszeit ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht entsteht, das unabhängig von der Arbeitsuche ist. Zumindest während der tatsächlichen Ausübung einer selbständigen Tätigkeit greift der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II daher nicht ein (OVG Hamburg vom 20.4.2007 Az.: S1 B 123/07 und vom 5.11.2007 Az.: S1 B 252/07). Nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) freizügigkeitsberechtigt, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind. Diese Berechtigung folgt aus der Niederlassungsfreiheit in Art. 43 EG.

Die Antragstellerin ist seit 5.7.2006 selbstständig tätig gewesen. Anders als die Antragsgegnerin geht das Gericht nicht von einer Scheinselbstständigkeit aus. Die Antragstellerin hat ausweislich der von ihr vorgelegten Rechnungen für sieben verschiedene Auftraggeber gearbeitet und hierbei auch Einkommen in Höhe von bis zu 1300 EUR monatlich erzielt, was offensichtlich für ihren Lebensunterhalt ausreichte. Die Voraussetzung für eine selbstständige Tätigkeit ist nicht, dass sich hieraus ein erheblich höheres Einkommen ergibt, als das eines Arbeitnehmers. Da die Antragstellerin für mehrere verschiedene Auftraggeber tätig war, die Auftraggeber von Monat zu Monat wechselten und kein Einziger von diesen den wesentlichen Anteil ihrer Aufträge vergab, befand sich die Antragstellerin nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis, wie es für das Arbeitnehmerverhältnis kennzeichnend ist. Zwar fällt auf, dass keine einzige Rechnung nachweislich per Überweisung beglichen wurde, angesichts der vergleichsweise geringen Einzelsummen scheint es jedoch möglich, dass die Rechnungen bar bezahlt wurden.

Wie lange der Schutz durch die europarechtliche Freizügigkeit dauert, lässt sich dem EU-Recht nicht eindeutig entnehmen. Er bewegt sich aber jedenfalls innerhalb einer Spanne zwischen drei und sechs Monaten (vgl. Becker, Arbeitnehmerfreizügigkeit in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 9 Rdnr. 15). Das Gewerbe der Antragstellerin ist weiterhin angemeldet, sie konnte es lediglich in der Zwischenzeit auf Grund ihrer Schwangerschaft und der anschließenden Betreuung ihres Kleinkindes nicht ausüben. Das Gericht geht daher davon aus, dass die selbstständige Tätigkeit der Antragstellerin, die nicht von der Innehabung bestimmter Betriebsräume abhängig ist, lediglich für die Dauer der Schwangerschaft und der anschließenden Betreuung des Kleinkindes aus zwingenden Gründen unterbrochen wurde, auf Grund der Absicht, das Gewerbe weiterhin auszuüben, jedoch als weiterhin bestehend zu betrachten ist.

Selbst wenn dem nicht so wäre, besteht die Möglichkeit, dass die Antragstellerin leistungsberechtigt nach dem SGB II ist, denn es besteht die ernstliche Möglichkeit, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gegen höherrangiges EU-Recht verstößt.

Das Gericht hat erhebliche Zweifel daran, dass die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 mit höherrangigem primären Gemeinschaftsrechts, insbesondere Art. 39 EG, zu vereinbaren ist. Insoweit hat das Gericht im Rahmen von zwei Hauptsacheverfahren um eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs ersucht. Das Verfahren wird dort unter den Aktenzeichen C-22/08 und C-23/08, die inzwischen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden wurden, geführt.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, wäre die Antragsteller gezwungen, den wie oben ausgeführt voraussichtlich rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland sofort zu beenden. Darüber hinaus ist auch nicht sichergestellt, dass sie über die erforderlichen Mittel für die Heimreise verfügt. Kurz nach der Entbindung benötigt die Antragstellerin schon aus gesundheitlichen Gründen des besonderen Schutzes ihres Aufenthaltsstaats. Angesichts dessen überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der fortdauernden Sicherung ihres Lebensunterhalts das Interesse der Antragsgegnerin so offensichtlich, dass die einstweilige Anordnung ergehen muss. Der Antragstellerin stehen deshalb Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu.