VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 10.09.2008 - 1 A 308/05 - asyl.net: M14094
https://www.asyl.net/rsdb/M14094
Leitsatz:

Die fehlende Rückkehrberechtigung nach Kuba begründet die Unmöglichkeit der Ausreise i. S. d. § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG. Sie führt in Verbindung mit einer längeren Straffreiheit zu einem atypischen Fall, der einer Ausweisung nach § 54 Nr. 1 AufenthG entgegensteht.

 

Schlagwörter: Kuba, Einreiseverweigerung, Rückkehrverweigerung, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Besuchsaufenthalt, Besuchsreise, Verschulden, Vertretenmüssen, Ausweisung, Soll-Ausweisung, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 54 Nr. 1
Auszüge:

Die fehlende Rückkehrberechtigung nach Kuba begründet die Unmöglichkeit der Ausreise i. S. d. § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG. Sie führt in Verbindung mit einer längeren Straffreiheit zu einem atypischen Fall, der einer Ausweisung nach § 54 Nr. 1 AufenthG entgegensteht.

(Amtlicher Leitsatz)

 

1. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG liegen vor.

Die Republik Kuba erkennt den Kläger zwar noch offiziell als ihren Staatsbürger an, er hat dort jedoch den Status eines Emigranten, da er keine Rückkehrberechtigung besitzt. Folge dessen ist die Weigerung Kubas, dem Kläger eine auf Dauer angelegte Rückkehrbewilligung zu erteilen bzw. ihn bei entsprechender Abschiebung aus Deutschland überhaupt zurückzunehmen. Dieses Verhalten Kubas ist zwar völkerrechtswidrig, führt jedoch zur Unmöglichkeit der Ausreise des Klägers. Diese Unmöglichkeit besteht - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht nur im Hinblick auf eine Abschiebung des Klägers, sondern auch bezüglich einer freiwilligen Ausreise. Ausreise im Sinne des § 25 AufenthG bedeutet, dass der Ausländer nicht nur in ein anderes Land einreisen kann, sondern auch die Möglichkeit besteht, dort einen nicht nur kurz befristeten Aufenthaltstitel zu erhalten. Die Einreise zu kurzfristigen Besuchszwecken reicht nicht aus (vgl. Burr, Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, § 25, Rn. 41 und 42). Der Auffassung der Beklagten, die Einreise und der kurzfristige Aufenthalt des Klägers im September 2004 in Kuba zeige, dass die Ausreise doch möglich ist, ist deshalb nicht zu folgen. Dem Kläger war nämlich nur ein Aufenthalt zu Besuchszwecken gestattet. Einen längeren Aufenthalt ließ die Republik Kuba nicht zu. Der gescheiterte Ausreiseversuch bestätigt vielmehr, dass die freiwillige Ausreise des Klägers unmöglich ist (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.06.2003 - 13 S 2767/02 -, juris). Eine Änderung in der Haltung Kubas ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht unter dem Vorbehalt des § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG. Danach darf die Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat die Unmöglichkeit der Ausreise in die Republik Kuba nicht zu vertreten. Ein Verschulden liegt dabei grundsätzlich nicht nur bei vorsätzlichem oder fahrlässigem Handeln im Sinne des § 276 BGB vor, sondern bereits dann, wenn ein Ausländer durch ein ihm zurechenbares pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für das seiner Abschiebung oder freiwilligen Ausreise entgegenstehende Hindernis gesetzt hat. Es ist an das festgestellte Ausreisehindernis anzuknüpfen. Verlangt wird insofern nicht nur Ursächlichkeit zwischen dem Verhalten des Ausländers und dem Ausreisehindernis, sondern auch ein vorwerfbares Verhalten (vgl. Burr, Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, § 25, Rn. 169). Vorwerfbar ist es in der Regel, wenn der Ausländer durch ein in seinem freien Willen stehendes Verhalten seine freiwillige Ausreise oder Abschiebung verhindert oder wesentlich erschwert hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998, NVwZ 1999, 664). Dabei obliegt es ihm, alles in seiner Kraft Stehende und Zumutbare dazu beizutragen, dass ein etwaiges Ausreisehindernis überwunden werden kann; insbesondere ist es Sache des Ausländers, sich rechtzeitig und in gebotenem Maße darum zu bemühen, Ausreisehindernisse zu beseitigen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Soweit die Beklagte argumentiert, der Kläger sei – als er in das Gebiet der ehemaligen DDR einreiste – zunächst im Besitz einer Rückkehrberechtigung nach Kuba gewesen und habe es dann nach Einreise in das Gebiet der Bundesrepublik im November 1989 versäumt, sich um die Verlängerung oder Neuanerkennung seines uneingeschränkten Rückkehrrechts in sein Heimatland zu bemühen, vermag das Gericht darin nicht das für das Ausreisehindernis maßgebliche und vor allem vorwerfbare Verhalten des Klägers zu sehen.

Der Kläger reiste damals vor dem Hintergrund eines bilateralen Abkommens zwischen der Republik Kuba und der DDR in das Gebiet der ehemaligen DDR ein. Es ist davon auszugehen, dass er im Besitz einer Arbeitserlaubnis gewesen ist und damals ein uneingeschränktes Rückkehrrecht nach Kuba besessen hat. Im Nachhinein lässt sich jedoch nicht oder nur sehr schwer aufklären, welche Auswirkungen die Übersiedlung eines kubanischen Staatsbürgers von der – sich damals gerade in "Auflösung" befindlichen – DDR in die Bundesrepublik im Hinblick auf das Rückkehrrecht des kubanischen Staatsbürgers hatte.

Zudem wäre eine – sonst quasi lebenslange – Haftung für ein evtl. Fehlverhalten von vor annähernd 20 Jahren unbillig.

Ein Verschulden des Klägers kann auch nicht darin gesehen werden, dass der Kläger eine – so die Behauptung der Beklagten – im Jahre 1993 bestandene uneingeschränkte Rückkehrberechtigung nicht verlängert habe. Das Gericht hat erhebliche Zweifel, ob diese Rückkehrberechtigung überhaupt bestand.

Sofern die Beklagte vorträgt, sie sehe ein Verschulden des Klägers jedenfalls darin, dass dieser trotz bestehender Abschiebungsverfügung der Beklagten nach seiner Ausreise im September 2004 dennoch wieder nach Deutschland eingereist ist, so ist dem nicht zu folgen. Der Kläger hat nämlich durch seine Wiedereinreise nicht ein Ausreisehindernis geschaffen. Das Ausreisehindernis besteht vielmehr in der Weigerung Kubas, den Kläger als seinen Staatsbürger wieder zurückzunehmen. Diese Weigerung ist nicht durch die - wenn auch unberechtigte - Wiedereinreise des Klägers nach Deutschland bedingt. Dem Kläger blieb angesichts der "Ausweisung" aus Kuba faktisch gar keine andere Möglichkeit, als wieder nach Deutschland zurückzureisen. Ein Verschulden im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG liegt darin nicht.

Die Voraussetzungen nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und 3 AufenthG sind damit erfüllt. Die Abschiebung des Klägers ist seit mehr als 18 Monaten ausgesetzt, so dass ihm nach § 25 Abs. 5 Satz 2 die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll. Mit dieser Sollvorschrift ist ein Rechtsgrund begründet, sofern nicht atypische Verhältnisse im Einzelfall gegeben sind (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 25 Rn. 37). Sofern die Beklagte vorträgt, der Kläger nehme öffentliche Leistungen in Anspruch und sei nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, begründet dies keinen atypischen Fall. Zum einen ist die Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen geduldeter Ausländer keine Besonderheit, zum anderen hat sich der Kläger nachweislich vergeblich um eine Arbeitserlaubnis bemüht. Es kann ihm deshalb nicht vorgeworfen werden, er könne seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten. Da der Kläger auf absehbare Zeit nicht nach Kuba ausreisen kann, würde er bei Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis weiter geduldet werden. Dies und die bereits seit 1997 fortlaufend ausgesprochenen Duldungen sprechen vielmehr für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, da diese gesetzliche Regelung gerade jahrelange Kettenduldungen verhindern soll.

2. Die mit Bescheid der Beklagten vom 14.11.2005 ausgesprochene Ausweisung ist rechtswidrig.

Rechtsgrundlage wäre § 54 Nr. 1 AufenthG.

Vorliegend sind jedoch besondere Umstände gegeben, die eine Abweichung vom Regelfall begründen. Der Kläger ist einerseits ausweislich des Bundeszentralregisterauszugs seit seiner Tat vom 06.08.2001 - trotz seiner schwierigen aufenthaltsrechtlichen Situation - nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Das spricht dafür, dass er sich die Sanktionen des Strafrechts hat zur Warnung dienen lassen. Andererseits weicht der vorliegende Fall schon insoweit von einem Normalfall ab, als es eben nicht typisch ist, dass ein Staat sich völkerrechtswidrig weigert, seine eigenen Staatsangehörigen wieder zurückzunehmen und es daher für den Betroffenen unmöglich ist, in sein Land zurückzukehren. Im Falle eines derartigen für einen unüberschaubaren Zeitraum bestehenden Abschiebungs- bzw. Ausreisehindernisses kann eine atypische Konstellation angenommen werden (vgl. Discher, Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, § 54 Rn. 127 ff.). Diese Sachlage in Verbindung mit der langen Straffreiheit des Klägers lässt das grundsätzlich bestehende spezial- und generalpräventive Ausweisungsinteresse zurück stehen und rechtfertigt vorliegend die Aufhebung der Ausweisung.