VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 16.09.2008 - 13 A 284/08 - asyl.net: M14096
https://www.asyl.net/rsdb/M14096
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Lebererkrankung, Lebertransplantation, verspätetes Vorbringen, Verzögerung des Rechtsstreits, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, EMRK, EGMR, Rechtsprechung, menschenrechtswidrige Behandlung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 74 Abs. 2; EMRK Art. 3
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet.

Die Entscheidung der Beklagten war allerdings seinerzeit bei Ergehen des Bescheides 13.06.2006 rechtmäßig und nicht zu beanstanden. Das Gericht darf jedoch nicht auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung der Beklagten abstellen.Gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG ist vielmehr die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. bei einem Urteil nach § 101 Abs. 2 VwGO im Zeitpunkt der Entscheidung maßgebend.

Hier haben die Kläger im Laufe des Verfahren (Bl. 20 ff. der Gerichtsakte) vorgetragen und hinreichend dargelegt, dass der Kläger zu 1.) mittlerweile mit der Stufe 2 zur Lebertransplantation gelistet worden ist. Diese neue Sachlage konnte die Beklagte bei ihrer Entscheidung noch nicht berücksichtigen, ist aber nun vom Gericht in seine Entscheidung mit einzustellen.

Der Vortrag, dass nunmehr der Kläger zu 1.) gelistet worden sei, erfolgte allerdings erst nach Ablauf der Frist des § 74 Abs. 2 AsylVfG, obwohl die Kläger über diese Frist belehrt worden waren und ein rechtzeitiger Vortrag möglich war. Im Hinblick auf die erheblichen drohenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen meint das Gericht, den verspäteten Vortrag gleichwohl schon deshalb berücksichtigen zu können. Im Übrigen führt er nicht zu einer Verzögerung des Rechtsstreites, weil die dem Gericht vorliegenden Auskünfte und Gutachten ausreichend sind und keine weiteren Auskünfte mehr zur medizinischen Versorgung in der Türkei eingeholt werden müssen.

Aufgrund der im Laufe des Klageverfahrens eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers zu 1.) ist davon auszugehen, dass ohne Lebertransplantation und entsprechender nachsorgender Behandlung ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn eine derartige Listung zur Transplantation, wie beim Kläger geschehen, kommt nur bei ernsthaften, gefährlichen Lebererkrankungen in Betracht, die eine derartige Behandlung dringend erfordern.

Zwar ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass Lebertransplantation auch in der Türkei durchgeführt werden und grundsätzlich der Kläger zu 1.) dort auch eine Behandlung erhalten könnte. Allerdings ist nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19.03.1997 – 514-516.80/6 TUR – die Behandlung bei einer Lebertransplantation nur für staatlich oder privat krankenversicherte Personen kostenfrei. Nicht krankenversicherte Personen müssen danach für alle Kosten – seinerzeit waren dies umgerechnet ca. 50 bis 70.000 DM entsprechend 4 bis 5 Milliarden TL – selbst aufkommen.

Auch das von der Beklagten vorgelegte aktuelle Gutachten des Serafettin Kaya vom 22.02.2008 bestätigt, dass ohne Einsatz erheblicher finanzieller Eigenmittel auch heute noch eine Lebertransplantation und die Nachsorge in der Türkei tatsächlich nicht möglich sind.

Die Kläger sind nicht krankenversichert und es ist nicht ersichtlich, dass sie diese Mittel selbst oder mit Hilfe von Verwandten aufbringen können.

Nach alledem besteht für den Kläger zu 1.) keine Aussicht, aufgrund eigener Mittel in der Türkei hinsichtlich seiner Lebererkrankung so behandelt zu werden, dass ihm keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht. Solange nicht die Beklagte oder das Land Niedersachsen sich bereit erklären, die Behandlungskosten in der Türkei zu übernehmen, besteht deshalb insoweit für ihn ein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 AufEnthG (vgl. auch VG Freiburg, Urt. v. 05.05.2008 - A 5 K 631/06 -, Asylmagazin 7-9/2008, 29f.).

Zwar hat der EGMR nun entschieden (Entscheidung vom 27.05.2008 - 26565 (N vs. UK), dass nach der EMRK die Unterzeichnerstaaten und damit die Beklagte, nicht verpflichtet sind, die sozioökonomischen Differenzen gegenüber weniger entwickelten Ländern auszugleichen und eine Verpflichtung, Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung kostenlose und unbegrenzte ärztliche Betreuung zu gewähren, nicht aus Art. 3 EMRK folgt, selbst wenn notwendige Arzneimittel in den Rückkehrstaaten oft teuer und schwierig zu beschaffen sind, weil die medizinische Versorgung von Ausländern eine zu große Belastung für diese Staaten darstellt. Das Gericht folgt dieser Auffassung. Gleichwohl war der Klage im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben. Denn der Anspruch des Klägers zu 1.) folgt nicht aus der EMRK, sondern aus § 60 Abs. 7 AufenthG. Diese Vorschrift stellt allein auf eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben ab.