Flüchtlingsanerkennung eines ehemaligen Mitglieds der PKK; zum Verfolgungsbegriff unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie.
Flüchtlingsanerkennung eines ehemaligen Mitglieds der PKK; zum Verfolgungsbegriff unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie.
(Leitsatz der Redaktion)
Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen und auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die zum 28.08.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG stellt in Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) nunmehr klar, dass für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, die Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend anzuwenden sind.
Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie gelten als Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 1 A GFK solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, sofern diese Verfolgung gemäß Art. 9 Abs. 3 mit einem oder mehreren der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist. Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder systematisch ausgeführt werden (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst, a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig). Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Ansprach auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst, a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51, E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig). Der Qualifikationsrichtlinie kann auch nicht das der deutschen Asylrechtsprechung geläufige Kriterium entnommen werden, dass die Verfolgung - soweit andere Rechtsgüter als Leib, Leben und Freiheit betroffen sind - ihrer Intensität und Schwere nach die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen muss, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben bzw. dass die Verfolgungshandlung den Einzelnen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung ausgrenzen muss (vgl. hierzu auch OVG Saarland, Urteil vom 26.06.2007 - 1 A 222/07 - Juris). Die Begriffe der Ausgrenzung und der übergreifenden Friedensordnung, die dem überholten Konzept der Staatlichkeit der Verfolgung entstammen, sind der Qualifikationsrichtlinie und dem internationalen Flüchtlingsrecht fremd und spielen für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie keine Rollen (vgl. Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. II, §5 Rdnr. 5). Es kommt vielmehr ausschließlich auf die schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte an. Zu diesen gehören nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 EMRK jedenfalls das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot von Folter und von unmenschlichen und erniedrigenden Strafen (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Verbot der Strafe ohne Gesetz (Art. 7 EMRK). Diese Aufzählung ist allerdings nicht abschließend. Als Schutzgüter kommen grundsätzlich alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechte in Betracht, insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren (Art. 6 EMRK), der Schutz von Familien- und Privatleben (Art. 8 EMRK), der Schutz der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) sowie die Eheschließungsfreiheit (Art. 12 EMRK).
Die der deutschen Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und dem sog. herabgestuften Maßstab bei Vorverfolgung entspricht im Kern der Regelung in Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Es spricht aber manches dafür, dass den hier entwickelten Prognosemaßstäben tendenziell eine zu starke Objektivierung zugrunde liegt, so dass nunmehr eine stärkere Gewichtung des subjektiven Elements der Verfolgungsfurcht geboten sein dürfte. Mit der daraus resultierenden besonderen Vorsicht können wesentliche Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts, das auch bislang subjektive Elemente unter dem Aspekt der Zumutbarkeit stets hervorgehoben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162-171), weiterhin Grundlage der Prüfung sein.
Die danach vorzunehmende qualifizierende Gesamtbetrachtung entspricht im Wesentlichen den Regelungen in Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Erläuterungen zu Art. 7 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig) und kann bei verständiger Bewertung des Einzelfalls in das Konzept der begründeten Verfolgungsfurcht integriert werden.
Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor, so dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
Das Gericht ist zunächst von der Glaubhaftmachung der Aussagen des Klägers überzeugt. Das Gericht ist daher der Überzeugung, dass Leben oder Freiheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr in die Türkei aufgrund seiner früheren Mitgliedschaft in der PKK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedroht ist. Zwar ist dem Kläger ein schweres nicht politisches Verbrechen vorzuhalten, dessen Ahndung grundsätzlich keine politische Verfolgung darstellt. Wenn jedoch, was hier zu befürchten steht, nicht allein eine angemessene Strafverfolgung zu erwarten ist, sondern unverhältnismäßige Reaktionen des türkischen Staates, so insbesondere Folter, ist gleichwohl politische Verfolgung gegeben (Politmalus). Wesentlich für diese Einschätzung ist, dass seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Mai 2005 bzw. im Rahmen der dadurch ausgelösten Operation der staatlichen Sicherheitskräfte auf beiden Seiten wieder Tote zu beklagen sind und die Sicherheitskräfte es vor diesem Hintergrund erneut zu unkontrollierten Handlungen und Übergriffen gegenüber prokurdischen Aktivisten kommt. Diese Konfliktsituation setzte nach einem von Gendarmerieangehörigen durchgeführten Anschlag auf des Geschäft eines ehemaligen PKK- Mitglieds nebst den diesem Anschlag nachfolgenden Begleitumständen so wie nach der Tötung von vier PKK-Kämpfern Ende 2005 ein. Sie breitete sich rasch aus und führte im März 2006 zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend Demonstranten aus dem Umfeld der PKK sowie den türkischen Sicherheitskräften, in deren Verlaufes in der gesamten Türkei zu mindestens fünfzehn Todesopfern sowie mehr als 350 Verletzten kam. Gleichzeitig begann die PKK wieder verstärkt Bombenanschläge gegen touristische Ziele in der Türkei zu verüben, so im April 2006 in Istanbul, im August 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya sowie im Mai 2007 in Ankara mit ebenfalls mehreren Todesopfern und zahlreichen Verletzten. Während die PKK seitdem von ihren im Nordirak gelegenen Stützpunkten aus verstärkt junge Kurden als Kämpfer anzuwerben sucht, hat der türkische Staat seinerseits zu deren Bekämpfung weitreichende Gesetzesverschärfungen, die auch das Antiterrorgesetz betreffen, auf den Weg gebracht; außerdem hat er seine Streitkräfte an den Grenzen zum Irak zusammengezogen, von wo aus sie Angriffe gegen die Lager der PKK starten. Allein im Jahre 2006 sollen bei diesen Auseinandersetzungen mindestens 110 Mitglieder der PKK und 78 Soldaten ums Leben gekommen sein. Vor diesem Hintergrund erklärte der türkische Generalstab im Sommer 2007 verschiedene Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak und Hakkari zu Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten, deren Betreten verboten ist und die streng kontrolliert werden. Ein spektakulärer Überfall der PKK im Herbst 2007 auf einen Grenzposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten ums Leben kamen und acht als Geiseln verschleppt wurden, hat die mittlerweile ohnehin schon stark angespannte Stimmung in der Türkei weiter angeheizt. So griffen radikalisierte türkische Nationalisten im Westen des Landes Geschäfte von Kurden sowie Büros der prokurdischen DTP an, während gleichzeitig der Ruf nach einer weiteren Verschärfung des Vorgehens des türkischen Staates gegen die PKK und deren Anhänger laut wurde (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007).
Nach den dem Gericht vorliegenden Materialien, insbesondere dem Gutachten von Oberdiek vom Januar 2006 zur Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, besteht insbesondere nach wie vor die Gefahr, dass Verurteilungen aufgrund von Aussagen zustande kommen, die unter Folter erlangt wurden. Bei der Verfolgung ehemaliger Mitglieder der PKK beschränkt sich die Türkei nach Auffassung des Gerichts nicht auf rechtsstaatliche Mittel, sondern greift auf rechtswidrige Methoden zurück. Die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeigt, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liegt. Im Berichtszeitraum hat die EGMR die Türkei in 330 Fällen wegen der Verletzung von Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren im Zeitraum vom 1. September 2006 bis 31. August 2007 ist höher als im selben Zeitraum des Vorjahres. Mehr als zwei Drittel der Verfahren betreffen die Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren und die Verletzung von Eigentumsrechten. In einer Anzahl von Fällen wird auf die Verletzung des Rechts auf Leben und Verstoß gegen das Folterverbot geltend gemacht. Eine bemerkenswerte Anzahl von Entscheidungen ist von der Türkei auch noch nicht umgesetzt worden. Bei den offiziellen Menschenrechtsausschüssen sind 2006 mehr Beschwerden eingegangen als im vorangegangenen Jahr. Der Abnahmetrend von Folterfällen hält an, jedoch wird nach wie vor von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Entwicklungen und außerhalb von Polizeistationen. Zwar ist die Verwendung von Aussagen, die in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes zustande gekommen sind, und nicht von einem Richter bestätigt wurden, nach der Prozessordnung verboten, jedoch habe der Kassationsgerichtshof entschieden, dass diese Vorschrift nicht auf zurückliegende Fälle Anwendung findet. So haben in einigen Fällen niedere Instanzen sich auf Beweismittel gestützt, bei denen der Angeklagte geltend gemacht hatte, bei ihrer Erlangung sei misshandelt worden. Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen bleibt ein problematischer Bereich. Es fehlt an schnellen unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch Sicherheitskräfte. Im Gegenteil werden solche Verfahren eher verschleppt, und die Täter bleiben straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbietet, ereignen sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden (so VG Berlin, Urteil vom 06.03.2008, VG 36 X 62.05).
Das Gericht geht davon aus, dass die türkischen Strafverfolgungsbehörden nach dem Kläger fahnden, wodurch sich die ihm drohende Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung noch zusätzlich erhöht. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger als langjähriger Aktivist der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten ist.
Aus den oben aufgezeichneten Gründen hält das Gericht es auch nicht für zumutbar, dass sich der Kläger angesichts seines Austritts aus der PKK auf die seit dem 1. Juni 2005 geltende Reuebestimmung des § 221 Abs. 2 t StGB zu verweisen sei.
Ein Ausschluss des § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der Regelung des § 60 Abs. 8 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Da der Kläger lediglich Lehrer bei der PKK war, liegen schon die Voraussetzungen des so genannten Terrrorismusvorbehaltes nicht vor.