VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 01.09.2008 - 6 K 07.30265 - asyl.net: M14108
https://www.asyl.net/rsdb/M14108
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage, neue Beweismittel, Drei-Monats-Frist, Kenntnis, Fristbeginn, Krankheit, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2; VwVfG § 51 Abs. 3
Auszüge:

Die zulässige Klage ist unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Wiederaufnahme des Verfahrens und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG unter gleichzeitiger Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 8. Oktober 2007 und unter Abänderung des Bescheids des Bundesamts vom 15. Februar 2000 hat. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§113 Abs. 5 VwGO).

1. Mit seinem Vorbringen erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des §71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zum Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht.

a) Eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen durch eine neue Tatsache nach § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 VwVfG liegt im vorliegenden Fall vor.

Zu Gunsten des Klägers wird davon ausgegangen, dass seine Erkrankung, wenn nicht ursächlich, so doch jedenfalls in der heutigen Ausprägung, eine neue Tatsache darstellt, die sich erst nach Abschluss seines früheren ersten Asylverfahrens ergeben hat.

b) Die vom Kläger vorgelegten Atteste erfüllen die Anforderungen an das Vorliegen eines neuen Beweismittels nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG.

Beweismittel sind dabei solche Erkenntnismittel, welche die Überzeugung einer Existenz oder Nichtexistenz von Tatsachen begründen können. Neu sind nur solche Beweismittel, die entweder während der Anhängigkeit des ersten Verfahrens noch nicht vorhanden waren oder zwar vorhanden, aber ohne Verschulden des Betroffenen nicht rechtzeitig während der Anhängigkeit beigebracht werden konnten. Neue Gutachten sind dabei freilich nur dann neue Beweismittel, wenn ihnen neue, bisher nicht bekannte Tatsachen zugrunde liegen oder sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, die erst nachträglich gefunden oder dem Gutachter bekannt wurden (vgl. VG Regensburg vom 10.1.2006, Az. RO 13 K 05.30406, juris, RdNrn. 60 f.).

Neue Beweismittel hat der Kläger insofern vorgelegt, als er ein Attest von Dr. ... vom 10. September 2007 und das Gutachten des Behandlungszentrums für Folteropfer ... vom 31. Januar 2008 sowie weitere Atteste hat vorliegen lassen. Dies sind neue Beweismittel insofern, als sie im früheren Asylverfahren noch nicht vorgelegen haben und möglicherweise neue Tatsachen, die Erkrankung des Klägers in ihrer aktuellen Schwere, betreffen (dazu soeben).

c) Soweit durch die vorgenannten Atteste Änderungen der Sachlage oder neue Beweismittel in das Verfahren eingeführt worden sind, sind sie jedoch verfristet auf Grund Versäumnis der Dreimonatsfrist nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. §51 Abs. 3 VwVfG.

Die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beginnt mit der Kenntnisnahme des Wiederaufgreifensgrunds. Dazu gehört, dass dem Betroffenen die Tatsachen, die den Wiederaufgreifensgrund ausfüllen, bekannt sind. Nicht erforderlich ist die rechtlich zutreffende Würdigung. Auch bei Dauersachverhalten ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnis vom Dauersachverhalt maßgeblich (vgl. VG Ansbach vom 13.2.2008, Az. AN 11 K 07.30754, juris, RdNr. 27).

Der Kläger hat die neuen Beweismittel und Tatsachen, soweit sie vorliegen, nicht fristgerecht geltend gemacht. Der Kläger befand sich mindestens seit dem 11. April 2007 im Bundesgebiet, einen Asylantrag hat er jedoch erst am 27. Juli 2007 gestellt. Damit ist die 3-Monats-Frist bereits abgelaufen.

2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 VwVfG im Wege der Ermessensentscheidung infolge einer Ermessensreduzierung auf Null zu.

b) Im Falle des Klägers liegt auch keine individuelle erhebliche Gefahr als Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor.

Zunächst ist davon auszugehen, dass für den Kläger eine erforderliche Behandlung auch im Kosovo möglich und erlangbar ist. Dies gilt zunächst für die von Dr. ... angesprochene Psychotherapie, welche auch im Kosovo angeboten wird. Ausweislich der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünfte des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 16. Januar 2006 ist die Behandlung von Erkrankungen wie paranoid-halluzinatorischen Psychosen und paranoider Schizophrenie durch Ärzte im Kosovo möglich. Das Hauptproblem bestehe ohnehin darin, für eine regelmäßige Medikamenteneinnahme zu sorgen. Dies könne nicht ärztlicherseits erfolgen, sondern müsse durch Dritte, in aller Regel Familienangehörige, geschehen (Gerichtsakte, Bl. 67 Rückseite). Dies wird durch die Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 1. August 2006 bestätigt (Gerichtsakte, Bl. 66). Nach dieser Auskunft waren schon im Jahr 2006 im öffentlichen Gesundheitswesen im Kosovo sieben Zentren für geistige Gesundheit und in fünf Krankenhäusern Abteilungen für stationäre Psychiatrie inklusive eingeschlossene Ambulanzen zur Behandlung psychischer Erkrankungen vorhanden. Ein Zentrum zur Rehabilitation von Folteropfern habe allein im Jahr 2004 970 neue Traumapatienten professionell behandelt (Gerichtsakte, Bl. 67 f.). Die ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Auskunft des Bundesamts, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien/Kosovo, medizinische Versorgung, Stand: August 2007, führt aus, es seien erhebliche Defizite im Kosovo bei der Behandlung psychischer und traumatischer Störungen festzustellen. Die Kapazitäten in den Behandlungszentren seien nicht ausreichend, die Behandlung psychischer Störungen erfolge überwiegend medikamentös, häufig würden psychotherapeutische Begleitmaßnahmen nur unzureichend oder überhaupt nicht durchgeführt. Auf Grund der geringen Zahl der im öffentlichen Gesundheitswesen praktizierenden Fachärzte drohten noch immer erhebliche Engpässe auch bei der ambulanten psychiatrischen Versorgung. Es lägen allerdings keine Hinweise darauf vor, dass behandlungsbedürftige Personen auf Grund fehlender Therapieplätze tatsächlich nicht behandelt werden könnten (Gerichtsakte, Bl. 79 f.). Unter Bewertung dieser Auskünfte vor dem Hintergrund der eigenen Auskunft des Klägers in der mündlichen Verhandlung, wonach er sich einem Arzt vorgestellt, aber ohne Geld keine Behandlung erhalten habe, ist davon auszugehen, dass der Kläger durchaus die erforderliche Behandlung im Kosovo erhalten kann. Dies betrifft sowohl das tatsächliche Angebot an therapeutischer Begleitung als auch seine finanziellen Möglichkeiten, diese notfalls auf eigene Kosten zu erlangen. Dass der Kläger, obwohl er nach seiner Rückkehr in den Kosovo im Jahr 2000 nach eigener Erinnerung wohl nicht mehr erwerbstätig gewesen ist, einem Schlepper für die Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland nach eigenen Angaben 2.000,- EUR zahlen konnte (Gerichtsakte, Bl. 22), zeigt, dass er und/oder seine Familie über erhebliche finanzielle Einkünfte verfügen. Für diese Summe hätte der Kläger auch im Kosovo außerhalb der öffentlichen Zentren sogar bei privat niedergelassenen Psychotherapeuten eine Krankenbehandlung durchführen lassen können. Allein der Hinweis, im Kosovo sei die Erinnerung viel intensiver und schlimmer, so dass er sich dort nicht behandeln lassen könne, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Sowohl die Stellungnahme des Behandlungszentrums für Folteropfer ... vom 6. März 2008 (Gerichtsakte, Bl. 94) als auch das nervenärztliche Gutachten von Dr. vom 30. Mai 2008 sehen beim Kläger eine Psychotherapie für erforderlich an (Gerichtsakte, Bl. 133). Jedoch ist davon auszugehen, dass beim Kläger in seiner derzeitigen, passiven Erwartungshaltung und Opferrolle die Methoden einer Psychotherapie wohl nicht greifen werden (Stellungnahme Dr. ... vom 30. Mai 2008, Bl. 133), so dass beim Kläger schon die grundlegende Bereitschaft, sich angemessen behandeln zu lassen, nicht besteht. Wenn sich der Kläger jedoch weder im Kosovo, wo nach seinen eigenen Angaben die Erinnerung viel schlimmer sei, noch in der Bundesrepublik Deutschland, wo diese Erinnerung so nicht vorhanden ist, behandeln lassen will, kann dem Kläger die Wahl seines Behandlungsortes nicht überlassen bleiben. Wenn er die erforderliche Behandlung auch im Kosovo erhalten kann, wo möglicherweise seine Erinnerung stärker, aber die sprachliche Verbundenheit zu den Therapeuten eine viel bessere als im Bundesgebiet ist, so muss er auf die dortigen Behandlungsmöglichkeiten verwiesen werden. Es ist nicht Sinn des Asylverfahrens, einem Kläger eine medizinische Behandlung im Land seiner Wahl zur Verfügung zu stellen. Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Kläger zumindest die notwendige psychotherapeutische Behandlung auch im Kosovo sowohl tatsächlich als auch finanziell erlangen könnte, dies aber bisher nicht in die Wege geleitet hat. Der behauptete Geldmangel ist angesichts seiner finanziellen Möglichkeiten zur Finanzierung der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland schlicht nicht glaubhaft.

Der Kläger kann auch im Kosovo grundsätzlich die derzeit zu seiner Medikation verwendeten Medikamente erhalten. Ausweislich der jüngsten Stellungnahme des behandelnden Arztes, Dr. vom 22. März 2008, wird der Kläger derzeit mit Citalopram und Trimipramin behandelt (Gerichtsakte, Bl. 100). Citalopram gehört nach Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 16. Januar 2006 zwar nicht zum Regelsortiment kosovarischer Apotheken, kann aber von Apotheken auf Kosten des Patienten aus dem Ausland beschafft werden (Gerichtsakte, Bl. 67 Rückseite). Medikamente mit dem Wirkstoff Trimipramin sind im Kosovo nach Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 1. August 2006 erhältlich (Gerichtsakte, Bl. 66). Diese Medikamente sind dem Kläger auch tatsächlich zugänglich, weil das eine Medikament zum Regelsortiment der medizinischen Versorgung im Kosovo gehört, das andere zwar nur auf Kosten des Patienten aus dem Ausland beschafft werden kann, der Kläger aber - wie bereits dargelegt - mit seiner Familie zusammen offenbar über finanzielle Möglichkeiten verfügt, die auch ausreichen, sich solche Medikamente aus dem Ausland zu beschaffen. Damit wäre eine medikamentöse Behandlung des Klägers im Kosovo sichergestellt. Ob für den Zeitraum ab einer Abschiebung und bis zum Erhalt der Medikamente im Kosovo ein Medikamentenvorrat mitgegeben werden kann bzw. muss, bleibt einer Prüfung der Ausländerbehörde vorbehalten. Jedenfalls steht der Abschiebung in den Kosovo kein grundsätzlicher Mangel an geeigneten Medikamenten dort entgegen.

Schließlich ist für den Kläger auch keine erhebliche und konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit mit einer Rückführung in den Kosovo verbunden. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger in seinem derzeitigen Gesundheitszustand die anstrengende und durch die Gefahr einer Entdeckung durchaus auch nervenaufreibende illegale Einreise ins Bundesgebiet auf dem Landweg bewältigt hat. Wäre sein Gesundheitszustand dem entgegengestanden, hätte er diese Reise nicht gewagt bzw. auch nicht auf Hilfe seiner Familie hin antreten können. Es war dem Kläger immerhin möglich, seinen Aufenthaltsort aus dem ihm vertrauten, familiär und sprachlich bekannten Kosovo in das eher unvertraute Bundesgebiet zu wagen.

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass für den Kläger auch nach den gutachterlichen Stellungnahmen keine erhebliche und konkrete Lebens- oder Gesundheitsgefahr im Fall einer Rückführung in den Kosovo derzeit besteht. Das Behandlungszentrum für Folteropfer hat in seiner Stellungnahme vom 6. März 2008 angegeben, Todeswünsche würden beim Kläger bestehen, akute, konkrete Suizidgedanken würden jedoch verneint (Gerichtsakte, Bl. 92).