VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 28.08.2008 - A 3 K 2913/07 - asyl.net: M14117
https://www.asyl.net/rsdb/M14117
Leitsatz:

Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer nichtstaatlichen Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak; Rückkehrer sind im Irak keiner erhöhten Gefährdung ausgesetzt, die die Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie rechtfertigen würde.

 

Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Sunniten, Sicherheitslage, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Anerkennungsrichtlinie, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer nichtstaatlichen Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak; Rückkehrer sind im Irak keiner erhöhten Gefährdung ausgesetzt, die die Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie rechtfertigen würde.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 12.11.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. §113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Seinem Vorbringen sind keine hinreichenden Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass die Voraussetzungen des - gegenüber der Vorgängernorm des § 51 Abs. 1 AuslG weiter gefassten - § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Der Kläger hat sich in seinem schriftlichen Folgeantrag und in der mündlichen Verhandlung auf die allgemeine, desolate Sicherheitslage, in der Schiiten gegen Sunniten und umgekehrt kämpften, und eine Gefährdung durch Terrorgruppen berufen. Diesem Vorbringen ist nicht zu entnehmen, dass er individuell und konkret wegen seiner Religionszugehörigkeit im Irak gefährdet wäre. Eine solche Verfolgung des Klägers durch nichtstaatliche Akteure wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich. Der Einzelrichter teilt nicht die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 14.11.2007 - 23 B 07.30496 -, juris) vertretene Ansicht, Sunniten drohten bei ihrer Rückkehr altein wegen ihrer Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere Eingriffe wie Ermordung, Verstümmelung oder andere schwere asylrelevante Rechtsverletzungen. Zum einen dürften die Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten Ausdruck des Kampfes um die Vorherrschaft im Staat sein, nicht jedoch zielgerichtete Verfolgung. Zum anderen fehlt es für die Annahme einer Gruppenverfolgung jedenfalls angesichts der Größe der schiitischen und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Diese wäre nur dann gegeben, wenn für jeden Angehörigen der jeweiligen Gruppe landesweit nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht. Dies ist jedoch nicht der Fall (vgl. VG Regensburg, Urt. v. 30.11.2007 - RN 3 K 07.30194 -, juris m. w. Nachw.). Für eine beachtlich wahrscheinliche individuelle Verfolgung des Klägers aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit ist gleichfalls nichts ersichtlich; dies trägt er auch selbst nicht vor.

Auch ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.

Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen nicht vor. Hiernach ist von der Abschiebung abzusehen, wenn der Ausländer als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Bei Gefahren in dem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, gilt zunächst, dass diese gem. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Entscheidungen nach § 60 a AufenthG berücksichtigt werden.

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann zwar - zum einen - im Wege verfassungskonformer Auslegung durchbrochen werden, wenn für den Ausländer kein Abschiebestopp nach § 60 a AufenthG besteht, er jedoch gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde ("extreme Gefahrenlage").

Eine derartige Situation dürfte für die Stadt M aus der der Kläger stammt und in der er bis zu seiner Ausreise gelebt hat, nicht anzunehmen sein, auch wenn die Lage in M nach wie vor äußerst angespannt ist und eine äußerst problematische und heikle Sicherheitslage besteht (Institut für Nahost-Studien, Stellungnahme vom 02.04.2007 an VG Düsseldorf). Dies kann aber offen bleiben. Denn die bei einer extremen Gefahrenlage gebotene Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheitert für den Kläger jedenfalls daran, dass ihm aufgrund der derzeitigen Erlasslage (Erlasse des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 27.11.2003 und vom 29.07.2004 - Az.: 4-13-IRK/12 -, die auf den Beschlüssen der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 21.11.2003 und vom 08.07.2004 beruhen), wonach irakischen Staatsangehörigen Duldungen zu erteilen bzw. erteilte Duldungen zu verlängern sind, gleichwertiger Abschiebungsschutz gewährt wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.09.2004 - A 2 S 471/02 -).

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann zwar - zum anderen - aufgrund einer europarechtskonformen Auslegung entfallen. Die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien des Europäischen Union vom 28.08.2007 neu gefasst (BGBl. I, Seite 1970 f.). Die Vorschrift geht auf Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie zurück. Nach Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts als ernsthafter Schaden. Da die Gewährung subsidiären Schutzes nach der Qualifikationsrichtlinie regelmäßig zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führt, die Abschiebestopp-Erlasse aber nur die Aussetzung der Abschiebung und damit die Erteilung einer Duldung vorsehen, darf aus europarechtlichen Gründen nicht von der Prüfung abgesehen werden, ob sich allgemeine Gefahren im Herkunftsland zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung verdichtet haben (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.06.2008 - 10 C 42.07, 10 C 43.07, 10 C 44.07, 10 C 45.07 -; vgl. hierzu auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 08.08.2007 - A 2 S 229/07 -, juris; HessVGH, Urteil vom 09.11.2006 - 3 UE 3238/03.A -, juris; VG Köln, Urteil vom 17.06.2005 - 18 K 5407/01.A -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 28.11.2006 - 6 A 589/05 -, juris; Hailbronner, Kommentar zum AufenthG, Stand Februar 2006, § 60, Rdnr. 134; Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006, IV. 2.5, S. 16; vgl. auch OVG Saarland, Beschluss vom 12.03.2007 - 3 Q 114/06 -, juris - jeweils zu Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie). Dies ergibt sich aus der Erwägung Nr. 26 der Qualifikationsrichtlinie, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Nichts anderes gilt für die Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Abschiebestopp-Erlasse sowie die Gewährung gleichwertigen Abschiebungsschutzes stehen der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG deshalb nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen des Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Es kann offen bleiben, ob in M , wo der Kläger herstammt, willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie herrscht. Selbst wenn dies der Fall wäre, ergäbe sich hieraus keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers. Insoweit müsste zu der allgemeinen Gefahrenlage hinzukommen, dass diese sich individualisierbar in der Person des Klägers konkretisiert (vgl. BVerwG a.a.O.; Hruschka/Lindner, NVwZ 2007, S. 650 unter Verweis auf VGH Bad.-Württ, Urteil vom 02.09.1993 - A 14 S 482/93 - juris). Hierfür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte aufgrund des Vorbringens des Klägers, der sich nur auf die allgemeine Lage im Irak beruft.

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, weil er eine Eigenheit hat, welche die Gefahr stark erhöht, dass er Opfer von Gewaltakten wird bzw. den gewalttätigen Auseinandersetzungen der verfeindeten Milizen oder Gruppen stärker ausgesetzt ist als die im Irak ansässige Bevölkerung. Insoweit folgt der Einzelrichter nicht der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (Urt. v. 30.11.2006 - 6 A 372/05 -, juris; Urt. v. 28.12,2006 - 6 A 320/05 -, juris). Nach dieser Rechtsprechung soll die Gefährdungslage für irakische Rückkehrer grundsätzlich deutlich höher einzustufen sein als für im Irak ansässige Bewohner. Dem ist entgegenzuhalten, dass es zwar bestimmte Gruppen gibt, die aufgrund individueller Merkmale, z.B. wegen ihres Berufs als Polizist, Soldat, Arzt, Professor, Friseur u.a., einer erhöhten Gefährdung im Irak unterworfen sind (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 29.01.2007; vgl. auch Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 03.04.2006 an VG Ansbach). Dass aber allein schon ein längerer Auslandsaufenthalt zu einem erhöhten Risiko führt, kann den eingeführten Erkenntnismitteln nicht entnommen werden, und es bestehen hierfür auch sonst keine Anhaltspunkte. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht belegt seine gegenteilige Auffassung nicht anhand von Erkenntnismitteln. Dass der Kläger einer besonders gefährdeten Gruppe angehören würde und deshalb einer individuellen Gefahr im Irak ausgesetzt wäre, ist seinem Vorbringen nicht zu entnehmen. Er kann sich vielmehr nur auf die allgemeine Lage im Irak berufen.