VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 27.08.2008 - 9 K 600/06.A - asyl.net: M14120
https://www.asyl.net/rsdb/M14120
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für syrischen Staatsangehörigen wegen hervorgehobener exilpolitischer Betätigung in der Jugendkommission der Syrischen Demokratischen und Zivilisationspartei (SDCP).

 

Schlagwörter: Syrien, exilpolitische Betätigung, Regimegegner, Überwachung im Aufnahmeland, SDCP, Jugendkommission, Funktionäre, Internet, anderweitige Sicherheit, Vereinigte Arabische Emirate (A), Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für syrischen Staatsangehörigen wegen hervorgehobener exilpolitischer Betätigung in der Jugendkommission der Syrischen Demokratischen und Zivilisationspartei (SDCP).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG.

Dem Kläger droht in Syrien politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten.

Exilpolitische Aktivitäten lösen in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aus, wenn es sich um regimefeindliche Aktivitäten handelt, durch die sich der syrische Staat oder seine Regierung in ihrem Bestand bedroht fühlen, und wenn diese Aktivitäten sich deutlich von der Vielzahl ähnlicher exilpolitischer Betätigungen zahlreicher anderer syrischer Landsleute abheben und damit in besonderer Weise aus dem Kreis der üblichen exilpolitischen Betätigungen herausragen. Dies entnimmt das Gericht der Auswertung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel. Dabei ist davon auszugehen, dass der syrische Geheimdienst die syrische Exilszene in Deutschland beobachtet. Allerdings findet eine lückenlose Überwachung der Aktivitäten von Syrern in Deutschland angesichts der hierfür erforderlichen Mittel und der über eine Million im westlichen Ausland lebenden Syrer nicht statt; vielmehr liegt die Annahme nahe, dass sich die syrischen Geheimdienste auf die als gefährlich betrachteten Regimegegner zu konzentrieren versuchen und eine konkrete, personenbezogene Überwachung erfolgt (vgl. AA, Auskunft vom 27. Juni 2000 an das VG Osnabrück; DOI, Auskunft vom 30. Juli 1999 an das VG Oldenburg und vom 26. Februar 1999 an das VG Freiburg; ebenso: OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Februar 2000 - 9 A 389/00.A - und vom 4. Mai 2000 - 9 A 2167/00.A -).

Zu berücksichtigen ist außerdem, dass Aktivitäten, die fernab der Heimat entfaltet werden, in der Regel nicht geeignet sein dürften, die politische Stabilität im Heimatland zu gefährden. Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn die an der syrischen Regierung geübte Kritik durch die erzeugte Publizität öffentlichkeitswirksam geworden ist und eine Intensität erreicht hat, dass sie von den syrischen Behörden deshalb als ernste Gefahr für den Bestand ihres Regimes eingestuft wird.

Dies ist hinsichtlich der politischen Aktivitäten des Klägers der Fall. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist der Kläger seit seiner Einreise in der Jugendkommission der von seinem Vater mitgegründeten Partei SDCP in verantwortlicher Position tätig und organisiert die Internetseite der Partei. Die Partei steht in Opposition zur syrischen Regierung und arbeitet öffentlichkeitswirksam mit anderen regimekritischen, meist kurdischen Parteien zusammen. Der Kläger koordiniert die Jugendarbeit der Partei und veröffentlicht mit anderen Mitgliedern regelmäßig regimekritische Erklärungen im Internet. Dies bestätigen die vom Kläger im Verfahren vorgelegten Unterlagen und dies ist auch von dem dazu in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragten Vater des Klägers bestätigt worden.

Nach der Erkenntnislage des Gerichts muss davon ausgegangen werden, dass die unter dem Namen des Klägers im Internet veröffentlichen Erklärungen der syrischen Botschaft in Berlin bekannt sind, und dass solche Äußerungen ebenso wie die Mitgliedschaft und erst recht die Ausübung einer Funktion in einer ungenehmigten Partei in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen (vgl. Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie e.V., Gutachten vom 16. Januar und vom 6. September 2005 an VG Magdeburg; nachrichtlich ist auch auf die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 6. November 2007 an VG Schleswig zu verweisen).

Hinzu kommt, dass der Kläger abgesehen von der angeführten Betätigung auch wegen der daraus ersichtlichen politischen Nähe zu seinem Vater, der die Partei und deren Aktivitäten entscheidend mit prägt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im besonderen Augenmerk der syrischen Behörden steht. Sein Vater ist seit Jahren intensiv in herausgehobener Stellung gegen die syrische Regierung exilpolitisch aktiv; diesbezüglich hat das Bundesamt bereits mit Bescheid vom 8. Januar 2003 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des damals geltenden Ausländergesetzes festgestellt.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG ist für den Kläger nicht deshalb ausgeschlossen, weil er bereits in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er sich vor seiner Einreise nach Deutschland zeitlebens aufgehalten hat, ausreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung hatte und auch weiterhin haben könnte (vgl. in diesem Zusammenhang Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 8. Februar 2005 - 1 C 29/03 -, BVerwGE 122, 376, und vom 12. April 2005 - 1 C 3/04 -, NVwZ 2005, 1328).

Eine erneute dauerhafte Aufenthaltnahme des Klägers in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Der längerfristige Aufenthalt dort setzt einen gültigen Aufenthaltstitel voraus (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 20. Februar 2008 an VG Aachen und vom 20. September 1999 an VG Münster).

Einen solchen besaß der Kläger nach seinem insoweit glaubhaften Vorbringen bei seiner Ausreise nicht mehr, nachdem er seine Schulausbildung abgeschlossen hatte. In diesem Zusammenhang erscheint es auch wenig plausibel, dass der Kläger seit November 2005 in Deutschland als Asylbewerber lebt und die damit verbundenen Einschränkungen in Kauf nimmt, wenn er statt dessen seinen Aufenthalt weiter in den Vereinigten Arabischen Emiraten nehmen könnte, in denen von Geburt an sein Lebensmittelpunkt gelegen hat.