VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 13.08.2008 - 5 E 782/07.A - asyl.net: M14140
https://www.asyl.net/rsdb/M14140
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Antragstellung als Asylgrund, Sippenhaft, Oppositionelle, Regimegegner, Nachfluchtgründe, Konversion, Juden, Apostasie, Monarchisten, exilpolitische Betätigung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Doppelbestrafung, Straftat
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.

Rechtsgrundlage für den im streitgegenständlichen Bescheid ausgesprochenen Widerruf ist § 73 Abs.1 AsylVfG.

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und unter Zugrundelegung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen ist vorliegend festzustellen, dass diejenigen Umstände, die zur Asylanerkennung des Klägers geführt haben, nämlich die ihm wegen der Asylantragstellung und Sippenhaft drohende Verfolgung im Falle einer Rückkehr in den Iran, zum jetzigen Zeitpunkt den Kläger nicht mehr in asylerheblicher Weise gefährden würden. Denn die Asylbeantragung in Deutschland ist als solche nicht geeignet, den Kläger im Falle einer Rückkehr einer beachtlichen Verfolgungsgefahr auszusetzen. In den zurückliegenden Jahren ist eine große Anzahl von Asylbewerbern aus dem Iran nach erfolglosem Durchlaufen des Asylverfahrens oder Rücknahme des Asylantrags in Deutschland in den Iran zurückgekehrt, ohne dass allein der Umstand, hier ein Asylverfahren betrieben zu haben, zu Verfolgungsmaßnahmen gegen die Betreffenden geführt hätte. In Einzelfällen wurden Rückkehrer lediglich kurzfristig festgehalten, um sie über Einzelheiten ihres Auslandsaufenthaltes und etwaigen Kontakten mit dort lebenden Personen zu befragen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008).

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass im Iran eine "Sippenhaft" in dem Sinne praktiziert wird, dass politische Verfolgungsmaßnahmen automatisch auf enge Familienangehörige ausgedehnt werden. Die Gefahr der Sippenhaft besteht nur dann, wenn die iranischen Behörden entweder im Hinblick auf die Person des Angehörigen oder wegen der von ihr entfalteten politischen Betätigung ein besonderes Interesse daran haben, durch Druck auf den Asylbewerber zu bewirken, dass sich der Angehörige den iranischen Behörden stellt, bzw. den Asylbewerber im Hinblick auf seine Verwandtschaft zum Angehörigen (Oppositionellen) mit zu verfolgen. Ein derartiges politisches Interesse ist gegeben, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen um einen prominenten Regimegegner handelt oder dieser wegen politisch motivierter Verbrechen im Iran gesucht wird (vgl. Deutsches Orient-Institut, Stellungnahmen vom 01.12.2003 an VG Oldenburg und an VG Köln; Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 03.08.2000 an OVG Lüneburg, vom 27.11.2000 an VG Neustadt, vom 08.01.2003 an VG Leipzig und vom 12.07.2004 an das Bundesamt; ai, Stellungnahme vom 18.12.2000 an VG Berlin).

Im vorliegenden Fall ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich, dass der Vater des Klägers heute noch als prominenter Regimegegner im Iran gelten könnte oder dieser wegen politisch motivierter Verbrechen im Iran gesucht werde.

Im streitgegenständlichen Bescheid wurde durch die Beklagte auch zutreffend festgestellt, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG nicht vorliegen. Denn der Kläger hat auch aufgrund seiner behaupteten, in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Nachfluchtaktiviäten nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblicher Verfolgung zu rechnen. Im Hinblick auf seine Nachfluchtaktivitäten hat der Kläger lediglich vorgetragen, dass er sich dem jüdischen Glauben zugewandt und sich in einem Artikel in der ... für einen iranischen Monarchisten eingesetzt habe. Zwar dauern nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht vom 18.03.2008) die seit den Anfangsjahren bestehenden Diskriminierungen religiöser Minderheiten, zu denen auch die Angehörigen des Judentums zählen, wenn auch in abgeschwächter Form an. Als eine der durch Art. 13 der Verfassung anerkannten Religionsgemeinschaften sind deren Angehörige aber weitgehend frei in der Religionsausübung. Die Verfassung garantiert ihnen sogar Sitze im Parlament, so dass von einer drohenden Verfolgung des Klägers aufgrund seines jüdischen Glaubens nicht ausgegangen werden kann. Im Übrigen ist auch davon auszugehen, dass das von dem Kläger vorgetragene Engagement für einen iranischen Monarchisten nicht zu einer Gefährdung des Klägers bei Rückkehr führen würde. Der Rechtsprechung des Hess. VGH folgend (vgl. Urteil vom 23.11.2005 - 1 1 UE 3311/04.A -) ist davon auszugehen, dass im Falle ihrer Rückkehr nur bei solchen exilpolitisch aktiven Emigranten die Gefahr von erheblichen Sanktionen besteht, die bei ihren Aktivitäten besonders hervorgetreten sind und deren Gesamtverhalten sie den iranischen Stellen als ernsthafte, auf die Verhältnisse im Iran einwirkende Regimegegner erscheinen lassen. Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger auch nach seinem eigenen Vortrag erkennbar nicht.

Dem Kläger droht insbesondere auch nicht angesichts seiner Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Falle einer Rückkehr in den Iran eine erneute Bestrafung. Die Bestimmung des § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass in der Person des Ausländers eine konkret-individuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dieser Maßstab ist identisch mit dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46 m.w.N). Im Falle des Klägers besteht jedoch keine konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit bei einer Abschiebung in den Iran. Zwar ist es zulässig, einen Iraner, der im Ausland eine auch im Iran strafbare Handlung begangen hat und dort verurteilt wurde, nach Rückkehr einem erneuten Strafverfahren zu unterziehen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19.03.2007 an VG Münster). Darüber hinaus ist die Aussage des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 18.03.2008), dass eventuell im Ausland verbüßte Strafe nach Aussagen von Vertretern der Justiz bei der Strafzumessung im iranischen Verfahren Anrechnung finden soll, nur verständlich vor dem Hintergrund, dass es erneut zu einer Bestrafung kommen kann. Nach der dortigen Aussage des Auswärtigen Amtes kann allerdings von einer erhöhten Gefahr einer erneuten Verfolgung nur in den Fällen ausgegangen werden, in denen ein iranischer Staatsangehöriger Opfer einer Straftat ist und er selbst oder seine Familie diese im Iran zur Anzeige bringt oder in denen die Tat selbst oder jedenfalls ein Teil derselben im Iran begangen wurde bzw. die in Deutschland besonderes Aufsehen erregt und aus iranischer Sicht das Bild Irans im Ausland beschädigt haben. Da die von dem Kläger begangene Straftat zweifelsohne nicht darunter fällt, unterliegt der Kläger auch dann, wenn die iranischen Behörden durch die Umstände der Rückführung des Klägers in den Iran von der Straftat Kenntnis erlangen sollten, keiner erhöhten Wahrscheinlichkeit einer erneuten Bestrafung.