VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 15.08.2008 - 1 A 162/05 - asyl.net: M14162
https://www.asyl.net/rsdb/M14162
Leitsatz:

Auf einen Folgeantrag hat das Bundesamt ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, wenn der neue Sachvortrag nicht völlig ungeeignet ist, ein für den Antragstellers günstigeres Ergebnis zu begründen, oder wenn sich die Rechtlage verändert hat; die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung stellen eine Änderung der Rechtslage dar; die Qualifikationsrichtlinie ist maßgeblich für die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung; ob eine Verfolgungshandlung droht, ist im Wege einer Gesamtbetrachtung zu prüfen; § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung nur entgegen, soweit die Verfolgungsgefahr auf "persönlichen Umständen" i.S.d. Art. 4 Abs. 3 Bst. c der Qualifiationsrichtlinie beruht; Flüchtlingsanerkennung eines vietnamesischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischen Engagements; die Gefährdung von Regimegegnern in Vietnam hat sich in den letzten Jahren verschärft.

 

Schlagwörter: Vietnam, Verfolgungsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Änderung der Sachlage, exilpolitische Betätigung, Richtlinienumsetzungsgesetz, Verfolgungshandlung, Kumulierung, Gesamtbetrachtung, illegales Verbleiben im Ausland, politische Überzeugung, Oppositionelle, Regimegegner, subjektive Nachfluchtgründe, persönliche Umstände, Situation bei Rückkehr, Nationale Partei Vietnams, Strafverfahren, Willkür, Überwachung im Aufnahmeland, politische Entwicklung, Auswärtiges Amt, Lagebericht, Administrativhaft, Rückübernahmeabkommen, interner Schutz, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. e; AufenthG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Auf einen Folgeantrag hat das Bundesamt ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, wenn der neue Sachvortrag nicht völlig ungeeignet ist, ein für den Antragstellers günstigeres Ergebnis zu begründen, oder wenn sich die Rechtlage verändert hat; die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung stellen eine Änderung der Rechtslage dar; die Qualifikationsrichtlinie ist maßgeblich für die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung; ob eine Verfolgungshandlung droht, ist im Wege einer Gesamtbetrachtung zu prüfen; § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung nur entgegen, soweit die Verfolgungsgefahr auf "persönlichen Umständen" i.S.d. Art. 4 Abs. 3 Bst. c der Qualifiationsrichtlinie beruht; Flüchtlingsanerkennung eines vietnamesischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischen Engagements; die Gefährdung von Regimegegnern in Vietnam hat sich in den letzten Jahren verschärft.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist als Flüchtling anzuerkennen (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG, Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ). Damit verbunden ist zugleich die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560).

1. Die Prüfung im Folge- und Wiederaufgreifensverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 304; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217). In der 1. Stufe ist lediglich substantiiert vorzutragen, was nur dann als unbeachtlich verworfen werden kann, wenn der Vortrag nach jeder denkbaren Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Insoweit hat der Kläger hier dargelegt, er sei nunmehr aktives Mitglied der "Nationalen Volkspartei Vietnams", für die er arbeite und sich engagiere. Im Übrigen sei das Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten und die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 beachtlich, so dass sein Sachvorbringen in diesem Lichte neu und anders als zuvor zu würdigen sei.

Hierbei ist auch, was die Beklagte übersehen hat, eine Änderung der Rechtslage beachtlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG: "oder"). Erscheint die Aufrechterhaltung des unter anderen Bedingungen ergangenen Erstbescheides - z.B. verfassungsrechtlich (Art. 19 Abs. 4 GG) oder europarechtlich - unerträglich, was hier angesichts zahlreicher Rechtsänderungen in Betracht kommt, so verdichtet sich das behördliche Aufgreifensermessen zur strikten Rechtsbindung (Schrumpfung; BVerwGE 28, 122/127 f.). Hiervon ist die Beklagte unter Berufung auf eine abweichende "Rechtsauffassung" zu § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (es müsse eine objektive Änderung zu Gunsten des Betroffenen vorliegen) jedoch zu Unrecht abgewichen.

2. Eine Änderung der hier maßgeblichen Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG iVm dem rechtsverbindlichen "Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559)" - GFK -, im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, aber auch mit Blick auf die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/ EG gegeben (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 4). Daneben rechtfertigen die Belege für eine exilpolitische Betätigung und jene über eine Veränderung der politischen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.

3. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).

Diese Entscheidung hat sich neben der GFK vor allem an der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9. 2004, L 304/12) mit ihren Art. 9 und Art. 10 zu orientieren, welche zumindest seit Oktober 2006 die "verbindlich geltende europarechtliche Grundlage des Rechts auf Flüchtlingsanerkennung" ist (Hoffmann, Beilage z. Asylmagazin 5/2007, S. 9/ S.14).

Soweit die Richtlinie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt ist, können sich die Betroffenen unmittelbar auf sie berufen (vgl. EuGH vom 19.11.1991, DVBl 1992, 1017). Unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sind im Licht der Richtlinie auszulegen. Das gilt sowohl hinsichtlich der relevanten Verfolgungshandlungen als auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Verfolgungsgründe." - BayVGH, Urt. v. 23.10.2007 - 14. B 06.30315

Denn die Europäische Union wollte im Oktober 1999 in Tampere "zu ihren Verpflichtungen aus der GFK uneingeschränkt" stehen (Clodius, Beilage zum Asylmagazin 5/2007, S. 1 Fußn. 4) und ein europäisches Mindestmaß an Flüchtlingsschutz festlegen. Die nach 2-jährigen Verhandlungen verabschiedete Richtlinie ist im Verhältnis Bürger/Staat (Behörden) unmittelbar geltendes Recht (EuGH v. 22.6.1989 / Rs 103/88, Slg. 1989, S. 1861/1870 f. - Fratelli Costanzo). Sie ist nicht etwa nur zu "berücksichtigen" (VGH Baden-W., Beschl. v. 19.12. 2006 - A 3 S 1274/ 06 -), sondern "Leitstern" jeder asyl- und flüchtlingsrechtlichen Bewertung, zumal sie konkretere Vorgaben und ausgefächertere Wertungsgesichtspunkte als § 60 AufenthG enthält, der sehr pauschal von einer "Bedrohung" spricht.

Diejenigen Regelungen des AsylVfG und des AufenthG, die der Qualifikationsrichtlinie widersprechen oder ihr entgegenstehen, sind wegen des europarechtlichen Vorrangs der Richtlinie unangewendet und gerichtlich daher unbeachtet zu lassen.

Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. lediglich die "ergänzende Anwendung" der gen. Richtlinie - beschränkt auf bestimmte Artikel - vorsieht, ist methodisch allerdings durch das Gericht dem unmittelbaren Vorrang und der europarechtlichen Verbindlichkeit der gesamten Qualifikationsrichtlinie Rechnung zu tragen, was vor allem auch für den in Art. 5 der Richtlinie geregelten Bedarf an internationalem Schutz gilt, der aus Nachfluchtgründen entstehen kann. Insofern ist § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG erweiternd auszulegen.

4. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Vietnam für den Zeitpunkt des Jahres 2008 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Er ist schutzbedürftig und als Flüchtling anzuerkennen.

4.1 Der Maßstab für diese Anerkennung ist der humanitären Intention zu entnehmen, die das Flüchtlings- und Asylrecht im Lichte der GFK und der Qualifikationsrichtlinie insgesamt prägt: Es soll demjenigen Aufnahme und Schutz gewährt werden, der sich in einer für ihn - subjektiv (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie: "Furcht vor Verfolgung") - ausweglosen Lage befindet (BVerfGE 80, 315 / 335). Konkretisiert wird diese Intention durch die GFK und die Qualifikationsrichtlinie, so dass eine prognostisch feststellbare, sich aus einer Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) ergebende Bedrohung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm GFK) für den Fall einer Rückkehr nach Vietnam bereits für eine Flüchtlingsanerkennung ausreicht.

Hierbei sind vor allem - in Übereinstimmung mit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - die Verfolgungsgründe des Art. 10 Richtlinie maßgeblich, deretwegen der Verfolgerstaat die vom Flüchtling befürchteten Verfolgungsmaßnahmen iSv Art. 9 Richtlinie betreibt (vgl. Urt. d. VG Bremen v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A). Insoweit können sehr umfassend sämtliche Regelungen sowie administrativen und sonstigen Maßnahmen einschließlich der dabei geübten Sanktions- und Polizeipraxis schon flüchtlingsrelevanten Charakter haben, wenn sie nur eine entsprechende Tendenz aufweisen (BVerwGE 71, 180 f.).

Bei Anwendung der Art. 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie in diesem Sinne ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten gem. Art. 3 günstigere Normen erlassen oder beibehalten können, so dass nicht auf "Verfolgungshandlungen" iSd Art. 9 Qualifikationsrichtlinie abzustellen ist, sondern - mit Blick auch auf die GFK - gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auf eine (bloße) "Bedrohung" und hierauf abzielende Handlungen. Es reicht daher aus, dass aufgrund einer Gesamtbetrachtung Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 (mit den Regelbeispielen aus Art. 9 Abs. 2) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG bedroht erscheinen bzw. der Kläger - bei "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" - in nur "ähnlich" gravierender Weise "betroffen" ist (Art. 9 Abs. 1 b der Richtlinie), er also eine begründete - subjektive - Furcht (Art. 4 Abs. 4) vor einer zureichend gravierenden Bedrohung (vgl. Art. 2 c) plausibel machen kann.

"Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht..." - VG Köln, Urt. v. 12.10.07 - 18 K 6334/05.A -

Dabei ist der Bedrohungscharakter verschiedener, u.U. zusammenspielender Sanktions- und Polizeimaßnahmen unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten im Herkunftsland lebenspraktisch zu erfassen. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:

"Schwerwiegende Diskriminierung und die Kumulativwirkung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen keinen Verfolgungscharakter aufweisen, sowie schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen können sowohl einzeln als auch zusammen mit sonstigen negativen Faktoren zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung führen; oder mit anderen Worten das Leben im Herkunftsland für die betroffene Person in vielerlei Hinsicht so unsicher gestalten, dass der einzige Ausweg in dem Verlassen des Herkunftslands besteht."

Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungsmaßnahmen ist angesichts der in Vietnam praktizierten Ausgrenzungen, Verfolgungen und Demütigungen, etwa durch Verhaftungen, Internet-Verbot, ausgedehnte Verhöre, Telefon- und Mailüberwachung bis hin zum "Kappen" der Internet- und Telefonverbindungen, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. (vgl. dazu Lageberichte des AA v. 31.3.06 und v. 14.7.2008) auch sachlich völlig verfehlt, zumal es nach der Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 Abs. 1 b) nicht mehr darauf ankommt, ob Verfolgungshandlungen die Menschenwürde oder Kernbzw. Randbereiche von Menschenrechten verletzen (Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5). Erst recht gebietet Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie eine lebensnahe Gesamtbetrachtung und -bewertung einer Vielzahl unterschwelliger Einzelhandlungen, die je für sich noch nicht verfolgungsrelevant sein mögen (Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen), das in ihrer Gesamtheit jedoch werden (vgl. Urt. d. VG Köln v. 12.10.2007 - 18 K 6334/05.A -). Schon die Verletzung der Freiheit des Briefverkehrs, etwa durch ständige Postkontrolle, kann zudem eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung sein, u.zw. unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung, Art. 9 Abs. 1 a der Richtlinie (so Hollmann, aaO., S. 6; Kalkmann, Asylmagazin 9/2007, S. 5). Vgl. "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" v. Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:

Nach Auffassung von UNHCR muss die Auslegung des Begriffs der Verfolgung flexibel, anpassungsfähig und offen genug sein, um die veränderlichen Ausprägungen von Verfolgung erfassen zu können."

Vgl. insoweit auch Bank/Schneider in Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 5:

"Auch die Qualifikationsrichtlinie, in der die Verfolgungshandlung in Art. 9 durch zahlreiche Kriterien weiter konkretisiert wird, enthält einen offenen Verfolgungsbegriff. Zwar wird dabei der schwerwiegende Charakter der Verletzung grundlegender Menschenrechte betont, ohne jedoch eine Beschränkung auf bestimmte Menschenrechte vorzunehmen."

Eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm Art. 9 Richtlinie ist somit schon dann beachtlich wahrscheinlich, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände bei lebensnaher Betrachtung ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung überwiegen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, UNHCR-Zeitschrift "Flüchtlinge", August Nr. 1987, S. 8 / 9; vgl. auch VG Bremen, Urt. v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A -; so schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92 ).

Auf die für eine zurückschauende Asylanerkennung mit ihrem Zusammenhang von Flucht - in der Vergangenheit - und damaliger Verfolgung (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG) geltenden Kriterien kommt es hier nicht an. Entscheidend ist, ob bei einer zukunftsgerichteten Betrachtung beachtliche Anknüpfungsmerkmale (iSd Art. 9 und Art. 10 Qualifikationsrichtlinie) vorliegen, deretwegen eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG in Zukunft nachvollziehbar und iSd Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 u. 10) begründet erscheint. Das ist hier der Fall.

4.2 Solche Bedrohung ergibt sich allerdings nicht schon aus einer möglichen Bestrafung auf Grund des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland.

4.3 Ob eine Bedrohung des Klägers angenommen werden kann, orientiert sich einerseits an der tatsächlich geübten Prozess- und Verwaltungspraxis des vietnamesischen Staates und andererseits in unmittelbarer Anwendung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG an deren Art. 9 und Art. 10, aber auch an der GFK, die zentraler Bezugspunkt jeder Auslegung flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen ist.

Dabei ist hier insbesondere die Definition der "politischen Überzeugung" in Art. 10 Abs. 1 e) zu beachten, u.zw. unter Berücksichtigung des Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie (bloße "Zuschreibung" der Überzeugung).

4.4 § 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, u.zw. auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt nämlich fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält diese Bestimmung nicht. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/EG" vom Mai 2005, Art. 5 Abs. 2:

"Auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Antragsteller bereits im Herkunftsland die Überzeugung oder Ausrichtung vertreten hat, hat der Asylsuchende innerhalb der durch Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen festgelegten Grenzen ein Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Diese Freiheiten beinhalten das Recht auf den Wechsel der Religion oder Überzeugungen, der nach der Ausreise stattfinden kann, z. B. aufgrund von Unzufriedenheiten mit Religion oder Politiken des Herkunftslands oder eines gewachsenen Bewusstseins für die Auswirkungen bestimmter Politiken."

Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Nur für solche Umstände ist den Mitgliedstaaten eine Regelungskompetenz zugestanden. Die in Abs. 2 genannten Aktivitäten sind von den in Abs. 3 genannten "Umständen" sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3 c und d der Richtlinie deutlich aufzeigt. Mit "Umständen", auf denen eine Verfolgungsgefahr beruhen kann (Art. 5 Abs. 3 Richtlinie), sind nur die in Art. 4 Abs. 3 c) genannten Umstände gemeint, nicht aber die in Art. 4 Abs. 3 d) aufgeführten Aktivitäten. Denn der Gegensatz zwischen "Aktivitäten" iSv Art. 5 Abs. 2 einerseits und "Umständen" iSv Art. 5 Abs. 3 andererseits wird - systematisch innerhalb des Kapitels II - in Art. 4 Abs. 3 c) und d) Richtlinie deutlich widergespiegelt.

Dem widerspricht es nicht, wenn in Art. 11 Abs. 1 e) und f) Richtlinie ebenfalls von "Umständen" - allerdings wohl umfassender - die Rede ist. Denn Art. 5 Abs. 3 steht in sachlich unmittelbarem Zusammenhang zu dem vorangehenden Absatz 2 und damit - als Gegensatz - zu jenen Aktivitäten, die - anders als die in Art. 5 Abs. 3 geregelten "Umstände" - uneingeschränkt "Nachfluchtgründe" iSv Art. 5 Richtlinie sein können. Hätte der Verfasser der Richtlinie - in Abkehr von seinem differenzierenden Sprachgebrauch in Art. 4 Abs. 3 c und d) - auch die von ihm im Absatz 2 noch gen. Aktivitäten in Art. 5 Abs. 3 (einschränkend) miterfassen wollen, so hätte er die Aktivitäten nicht im Absatz zuvor noch als mögliche Nachfluchtgründe ausdrücklich anerkannt, jedenfalls aber zumindest in Abs. 3 einbezogen und miterwähnt. Da er das nicht getan hat, sind "Aktivitäten" uneingeschränkt als Nachfluchtgründe iSv Art. 5 Richtlinie anzuerkennen. Zudem sind Beschränkungen, wie sie Art. 5 Abs. 3 enthält, nicht etwa ausdehnend, sondern eng auszulegen.

Zu den "Aktivitäten" ist somit umfassend eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2 b oder d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlicher Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).

Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persönlichen) "Umständen" im Sinne des Art. 5 Abs. 3, die von nationalstaatlichen Einschränkungen der Mitgliedstaaten erfasst würden. Sie sind von diesen abzuschichten. Sie werden nicht von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten erfasst. Soweit § 28 Abs. 2 AsylVfG dennoch solche exilpolitischen Aktivitäten, wenngleich auch hier von "Umständen" die Rede ist, unter dem Gesichtspunkt selbst geschaffener Nachfluchtgründe (iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG) zu erfassen sucht und sie - falls sie zeitlich nach Verlassen des Herkunftslandes und nach Rücknahme oder Ablehnung des Erstantrages entstanden sind (§ 28 Abs. 1 a AsylVfG idF d. EURLAsylUmsG v. 19.8.2007) - vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK regelmäßig ausschließen will, ist diese Bestimmung hier wegen Widerspruchs zur rechtlich maßgeblichen Qualifikationsrichtlinie unbeachtlich und unanwendbar. Die unmittelbar anwendbare Richtlinie geht dem deutschen Recht vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die aufgeworfene Frage bislang nicht entschieden. Vgl Beschl. BVerwG v. 23.4.2008 - 10 B 106/07 - :

"Auch die Frage nach der Vereinbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG (i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) mit Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie betrifft ausgelaufenes Recht."

Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht § 28 Abs. 2 AsylVfG aufgrund des vor der unmittelbaren Geltung der Qualifikationsrichtlinie basierenden Rechtszustandes noch uneingeschränkt im Sinne einer "Verfolgung" und Fortführung einer festen Überzeugung aus dem Heimatland für anwendbar gehalten hat (Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), ist diese Auffassung inzwischen durch Gesetzesänderung überholt, § 28 Abs. 1 a AsylVfG idF des EURLAsylUmsG v. 19.8.2007. Die in neueren Urteilen des Senats (vom 7.7. 2008 - z.B. 9 LB 160/06 -) noch erfolgte Bestätigung der Auffassung, es komme auch bei § 60 Abs. 1 AufenthG auf eine "Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht" an, von der nur dann eine Ausnahme gemacht werden könne, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten

"als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen oder wenn der Ausländer sich aufgrund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung hat bilden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.6.1988 - 9 B 65.88 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 89, Urt. v. 25.10.1988 - 9 C 76.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 96 u. v. 2.8.1990 - 9 C 22.89 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 131; OVG Münster, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A - ZAR 2005, 422)"

- so Urt. Nds. OVG v. 7.7.2008 - 9 LB 160/06 - ,

geht daran vorbei, dass § 28 Abs. 1 a AsylVfG inzwischen die behauptete Kausalität "zwischen Verfolgung und Flucht" aufgelöst und für eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG auch gerade Ereignisse gelten lässt, die zeitlich nach dem Verlassen des Herkunftslandes vom Bewerber um die Flüchtlingseigenschaft selbst geschaffen wurden. Im Übrigen kann der dargelegten Auffassung des Senats auch deshalb nicht gefolgt werden, weil sie - ohne Befassung mit der gen. Richtlinie und ohne Berücksichtigung der GFK - nicht die (prognostische) "Bedrohung" iSv § 60 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung der Verschärfung der tatsächlichen Verhältnisse in Vietnam in den Blick nimmt (vgl. z.B. Lagebericht AA v. 14.7. 2008, S. 7, vorletzter Absatz), sondern nach wie vor (vgl. dazu die Senatsrechtsprechung seit 1998, so Beschl. v. 28.7.1998 - 9 L 3364/98 -) einen "Bekanntheitsgrad" des Oppositionellen fordert. Bereits im Urteil der Kammer vom 16.8. 2006 - 1 A 406/03 - ist dargelegt worden, dass dieser Rechtsprechung nicht gefolgt werden kann (zustimmend Damson-Asadollah in InfAuslR 2006, 426; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Asylmaganzin 11/2007, S. 23), zumal auch im jüngsten Lagebericht des AA v. 14.7.2008 dargelegt wird, dass gerade oppositionellen Rückkehrern ohne jenen "Bekanntheitsgrad" eine Bestrafung wegen Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung nach dem Strafgesetzbuch drohen kann. Der "Bekanntheitsgrad" führt danach - je nach Ausmaß - ggf. zu einer Einreiseverweigerung (mit dem damit verbundenen Entzug auf Heimat). Es trifft somit nach den vorliegenden Informationen nicht zu, dass die vietnamesischen Behörden erst ab einer Tätigkeitsschwelle oder einem Bekanntheitsgrad des Betroffenen aktiv werden und etwa nicht auf die politische Gesinnung und Einstellung abheben (Will, APuZ 27/2008, Beilg. z. Parlament, S. 6 ff / S. 10 m.w.N.). Human Rights Watch bezeichnet die Repressionswelle, die im Frühjahr 2007 einsetzte, als eine der "schlimmsten in den vergangenen zwei Jahrzehnten" (Int. Herald Tribune v. 15.5.2007).

4.5 Eine begründete Furcht vor Bedrohung hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung nach Vietnam hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.

4.5.1 Als "Verfolgungs"- bzw. Bedrohungshandlungen des vietnamesischen Staates im Sinne von Art. 9 Qualifikationsrichtlinie, die eine nachvollziehbar begründete Bedrohungsfurcht erzeugen können, so dass der Kläger verständlicherweise "wegen dieser Furcht" den Schutz des vietnamesischen Staates nicht in Anspruch nehmen will (Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie), kommen hier nachfolgende Gesichtspunkte in Betracht:

- Der Kläger hat schon mit 20 Jahren in Vietnam politische Zeitungen verkauft, die "gegen die Kommunistische Partei gerichtet waren" (Protokoll v. 15.8.2008, S. 2). Schon damals wurde er "sehr oft" zur Polizeistation vorgeladen und zu seiner Verteilertätigkeit befragt. Als dann nachts bei einer Verteilungsaktion ein Kollege von ihm verhaftet wurde, er aber fliehen und untertauchen konnte, ist er aus Vietnam mit einer Organisation gegen Geldzahlungen geflüchtet (Protokoll v. 16.8.2000).

- Inzwischen gehört der Kläger seit 3-4 Jahren einer Partei mit dem Namen "Nationale Partei Vietnams" in Bochum an, die sich intensiv für Menschenrechte sowie Freiheit und Gleichberechtigung einsetzt. Die Partei hat zum Ziel, die Lage in Vietnam zu verbessern. Sie gibt "Hilfe und Beistand für diejenigen, die sich in Vietnam gegen die Kommunistische Partei wenden" (S. 2 d. Protok. v. 15.8.2008).

- Es existieren zahlreiche politische Strafvorschriften Vietnams (vgl. dazu Thür. OVG, Urt. v. 6. 3. 2002, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 3, 19 = EzAR 212 Nr. 13), welche im Wesentlichen dem Zweck dienten und dienen, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam abzusichern. Zugleich ist eine verschärfte Praxis vietnamesischer Behörden bei der Handhabung dieser politischen Vorschriften zu beobachten (Will, aaO.; VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159).

Hierbei ist davon auszugehen, dass dem vietnamesischen Geheimdienst die exilpolitischen Betätigungen der Auslandsvietnamesen in der Regel bekannt sind:

"Angesichts der sehr intensiven Überwachung der exilpolitischen Organisationen und ihrer Publikationen durch die vietnamesische Regierung bzw. deren Auslandsvertretungen ist davon auszugehen..." (so Dr. G. Will, Stellungn. V. 14.09.2000 an Bay. VG München).

Die in Deutschland in letzter Zeit üblichen "Befragungen" bzw. "scharfen Verhöre" (z.B. in Mühlheim a.M., vgl. dazu FR v. 2.8.2005) oder in Langenhagen/Hannover belegen solche Überwachung exilpolitischer Organisationen durch vietnamesische Bedienstete und deren Versuche, die hier tätigen Vereine datentechnisch zu erfassen. Insofern ist nachvollziehbar, dass der Kläger hier für seine Partei unter einem Decknamen arbeitet.

Weiterhin stellt sich die Lage in Vietnam heute - gegenüber dem im Jahre 2000 abgeschlossenen Erstverfahren - so dar, dass sich die Verhältnisse dort in der Zwischenzeit sehr deutlich verschärft haben (Lagebericht AA v. 14.7.2008; ai-Lagebericht 2008, S. 461; Will, aaO m.w.N.). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 29.1.2008 - 1 A 227/04 und v. 10.1.2007 - 1 A 164/04 -), wobei folgendes betont sei:

Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen wertet z.B. der Lagebericht des AA vom 14.7.2008 nach eigener Darstellung von 6 herangezogenen Dokumentationen 4 aus dem Jahre 2006 aus und nur einen aus dem Jahre 2008: Weder der ai-Jahresbericht 2008 (Länderkapitel Vietnam, S. 460) noch der ai-Jahresbericht 2007 (Vietnam S. 480) werden verwertet. Vielmehr wird anstelle der aktuellen Berichte nur der des Jahres 2006 einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 wird ebenso wenig erwähnt oder verwertet wie der IGFM-Jahresbericht. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte eingeschränkt.

Somit müssen auch andere Erkenntnisse in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen werden.

Selbst nach den aktuellen Lageberichten des AA (v. 3.5.2007 und v. 14.7.2008) ist es aber so, dass regierungskritische Aktivitäten nicht nur mit "größter Aufmerksamkeit", sondern ggf. sogar mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden. Menschenrechte werden "weiterhin nicht gewährt bzw. stark eingeschränkt". Gegen mehrere Oppositionsgruppen ging die Regierung "mit gewisser Härte" vor, wobei die "staatliche Repression" regional und lokal unterschiedlich war. Persönlichkeiten, die sich für umfassende Meinungsfreiheit einsetzen, werden weiterhin mit Zensur sowie polizeilichen und strafrechtlichen Sanktionen belegt. Seit Anfang Februar 2007 sind Dutzende Oppositionelle von den staatlichen Medien mit Denunzierungskampagnen überzogen, verhaftet und in Schauprozessen zu Gefängnisstrafen von bis zu acht Jahren verurteilt worden (Straftatbestände "Propaganda gegen die Sozialistische Republik Vietnam", "Störung der öffentlichen Ordnung" und "Missbrauch der demokratischen Freiheiten, der die Staatsinteressen verletzt").

Die Ausweichmöglichkeiten für Betroffene sind gering, weil es administrative Niederlassungsbeschränkungen gibt (Umschreibung des Familienbuches auf einen neuen Wohnort nicht ohne weiteres möglich, so dass die Ausübung von zivilen Rechten - Heirat, Autokauf, Hauskauf, Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen usw. - unterbunden wird). Bei politischen Straftätern gibt es Fälle "jahrelanger Isolationshaft" mit Limitation von Besuchen und Zensur der Post. Vietnam zählt weltweit zu den Ländern mit den gravierendsten Beschränkungen der Pressefreiheit (Platz 155 von 167). Dissidenten sind fortlaufenden Repressionen ausgesetzt: Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. Aktive Gegner des Sozialismus bzw. solche, die dafür nur gehalten werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie), können nach den weit gefassten Vorschriften jederzeit nach Belieben der vietnamesischen Polizeibehörden inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit "nicht auf einen grundsätzlichen Wandel" (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005). "Hart durchgegriffen" wird bei Internet-Dissidenten sowie religiösen Organisationen (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen v. 15.6.2005). Es gibt Hinweise darauf, "dass die Regierung die Schraube weiter anzieht" (Lagebericht v. 31.3. 2006).

Im Zentralen Hochland Vietnams kam es zu massiven Verfolgungsmaßnahmen (vgl. dazu Urteil des VG Schleswig-Holstein v. 15.11. 2006 - 9 A 282/06 - ).

Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich u.a. auch daran, dass im März 2005 ein Erlass über die "öffentliche Ordnung" unterzeichnet wurde, der "drastische Auflagen für die Durchführung öffentlicher Versammlungen" enthält (ai-Jahresbericht 2006, S. 496). Weiterhin zeigt sie sich daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. "nationale Sicherheit Vietnams" zur Last gelegt werden, seit 2004 als "Staatsgeheimnisse" eingestuft werden (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung v. 15.6.2005). Im Jahre 2007 wurden zahlreiche Todesurteile gefällt und hiervon 83 vollstreckt, darunter 14 Frauen - wobei die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte (so 7. Bericht der Bundesregierung, S. 358; ai-Jahresbericht 2008, 462). Berichte dazu gelten als "Staatsgeheimnis" (ai-Jahresbericht 2008, S. 460).

- Als weitere Verfolgungs- bzw. Bedrohungsmaßnahmen in Vietnam sind die sog. "administrativen Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) zu nennen, die allerdings im März 2007 aufgehoben und ihrerseits durch eine Verordnung Nr. 44 ersetzt worden ist. Danach haben die Verwaltungsorgane die Möglichkeit, missliebige Personen ohne Gerichtsverfahren qua Verwaltungsentscheidung bis zu 2 Jahre unter Hausarrest zu stellen oder in eine psychiatrische Klinik / in Erziehungsheime einzuweisen (Lagebericht AA v. 14.7.2008). Auch das ist in Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 29.1.2008 - 1 A 227/04 -; v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).

- Auch die in Vietnam verbreitete Unberechenbarkeit behördlichen Vorgehens ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 Abs. 2 b der Qualifikationsrichtlinie hinreichender Anlass, die vom Kläger angesichts seiner exilpolitischen Betätigung vorgetragene Furcht zu belegen. Denn eine verlässliche Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8. 2005). Die Reform wird in der Realität sogar nur selten beachtet. Demgemäss hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam auch als entscheidungserheblich bewertet.

- Die potenzielle Bedrohung des Klägers zielt somit genügend gravierend auf Art. 5 EMRK (Freiheit und Sicherheit), auf Art. 6 (faires Verfahren), auf Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz / vgl. dazu die Administrativhaft bzw. die Einweisung in Kliniken in Vietnam), auf Art. 9 (Gedanken, Gewissens- und Religionsfreiheit: Einschränkungen nur auf gesetzlicher Basis und soweit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig), Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung), auf Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), auf Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot, hier wg. politischer oder sonstiger Anschauungen), die allesamt grundlegende Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie darstellen - wobei Art. 7 EMRK sogar ein Recht darstellt, von dem nicht abgewichen werden darf (Art. 15 Abs. 2 EMRK). Die genannten Ausgrenzungs- und Verfolgungshandlungen, die den parteipolitisch aktiven Kläger treffen könnten, erreichen in ihrer Kumulation (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) einen Schweregrad, der ohne Frage in

"ähnlicher" Weise (Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie) zu einer Bedrohung bzw. Betroffenheit des Klägers führt wie die angesprochenen Menschenrechtsverletzungen.

5. Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer qualifizierten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, steht das im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/ EG, derzufolge es "unerheblich" ist, "ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist." Das Erfordernis einer "Schwelle" ist mit der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie nicht vereinbar. Auch auf einen "Bekanntheitsgrad" kommt es nicht an. Denn gerade unbekannte Oppositionelle sind nach der Praxis des vietnamesischen Staates im Einzelfall bedroht (Lagebericht AA v. 14.7.08, S. 19). Insoweit verkennt die Beklagte Inhalt, Bedeutung und Tragweite der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie. Eine von der Beklagten geforderte Betätigung - gar in qualifiziertem Maße - ist gerade nicht (mehr) Voraussetzung einer Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG mit seinem Bezug zur GFK und zur Qualifikationsrichtlinie 2004/83 /EG , die gem. § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG uneingeschränkt zu berücksichtigen ist.

Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam überhaupt wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger "breite Öffentlichkeitswirkung" entfalten bzw. einen "nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit" haben: Nicht die mehr oder weniger große Wirkung exilpolitischer Betätigung in Vietnam ist maßgeblich, sondern entscheidend sind die Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam und die erst auf dieser Grundlage gegen Rückkehrer dann etwa dort - in Vietnam - ergriffenen Maßnahmen. Der Kläger als aktives Parteimitglied jedoch dürfte vietnamesischen Behörden im Falle seiner Rückkehr "suspekt" erscheinen. Das macht die Bedrohung des Klägers aus.

In Vietnam wird ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung Einzelner bekämpft (vgl. die dafür geschaffenen "Umerziehungslager", die jenen in Nordkorea ähneln - ai-journal 10/2005 S. 32), ohne dass es darauf ankommt, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus in Vietnam irgendeine Breitenwirkung erzielt haben. Es geht nicht nur um einen "Gesichtsverlust" des vietnamesischen Regimes, sondern - nach zwei Aufständen (Februar-Aufstand 2001 und April-Aufstand 2004) - offensichtlich um die Abwehr freiheitlicher Meinungen und Bestrebungen, die in Vietnam schon von ihrer "Wurzel an" nachhaltig bekämpft werden. Hier wird dann "hart durchgegriffen" (so S. 358 des 7. Berichtes der Bundesregierung, aaO.). Öffentliche Kritik an Partei und Regierung wird nicht geduldet Lagebericht AA v. 14.7.08). Aktive und überzeugte (Gesinnungs-)Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP müssen daher stets mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen und sind ernstlich gefährdet (so schon Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Deshalb ist freiheitliches Denken und eine entsprechende Gesinnung für sich bereits "verboten". Gläubige, die den bloßen Verdacht erweckt haben, im Zusammenhang mit ihrer Religionsausübung oppositionelle Bestrebungen (nur) "zu unterstützen", werden "inhaftiert bzw. müssen mit ihrer Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen" (so Urteil VG Schwerin v. 27.2.2004 - 1 A 1580/01 As -). Soziales oder gesellschaftliches Engagement ist nicht erlaubt (7. Bericht der Bundesregierung, S. 358).

6. Die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren sind heute - im Jahre 2008 - irrelevant: Der Sachverständige Dr. Will hält daran fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1; ebenso 7. Bericht der Bundesregierung, aaO., S. 358: "Eine öffentliche Diskussion der Machtstrukturen wird nicht geduldet"). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich "als Schlag ins Wasser erwiesen" und die "vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg" gelegt habe. Diese Auffassungen stimmen mit der SWP-Studie "Chancen und Risiken deutscher Politik in Vietnam" (Berlin, März 2002) überein, in der dargelegt ist, dass Vietnam an einer Repatriierung seiner Staatsbürger kein Interesse mehr hatte und die Abkommen trotz Interventionen des damaligen Außenministers Kinkel (absichtlich) hat leer laufen lassen.

Es mag zwar sein, dass eine Bestrafung "wegen ungenehmigter Ausreise" in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Die Abkommen geben aber nichts dafür her, ob speziell wegen (exil-)politischer Betätigungen eben doch Bestrafungen erfolgen (so richtig VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159).