VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - asyl.net: M14170
https://www.asyl.net/rsdb/M14170
Leitsatz:

Asylanerkennung eines tibetischen Volkszugehörigen aus China wegen illegaler Ausreise und Auslandsaufenthalts.

 

Schlagwörter: China, Tibet, Tibeter, Glaubwürdigkeit, Drittstaatenregelung, Luftweg, Schweiz, Rückübernahmeabkommen, anderweitige Sicherheit, Bhutan (A), Nepal (A), Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, illegale Ausreise, Auslandsaufenthalt, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Übergriffe, Folter, Inhaftierung, Überwachung im Aufnahmeland, Demonstrationen, Auslandsvertretung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 26a Abs. 1 S. 3 Nr. 2; AsylVfG § 27 Abs. 1; AsylVfG § 27 Abs. 3
Auszüge:

Asylanerkennung eines tibetischen Volkszugehörigen aus China wegen illegaler Ausreise und Auslandsaufenthalts.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2007 in Gestalt des Bescheides vom 27. Juni 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, denn dem Kläger steht ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und Feststellung darauf zu, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - vorliegen.

Dabei ist entgegen der Auffassung der Beklagten davon auszugehen, dass es sich bei dem Kläger um einen tibetischen Volkszugehörigen aus der tibetischen autonomen Region in der Volksrepublik China handelt.

Der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter steht die Regelung des § 26a Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - nicht entgegen. Der Kläger, der auf dem Luftweg nach Frankfurt am Main eingereist ist, stellte zunächst in der Schweiz einen Asylantrag und wurde in der Folgezeit von der Schweiz gemäß Artikel 2 des Abkommens der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem schweizerischen Bundesrat über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (Rückübernahmeabkommen) vom 20. Dezember 1993 an die Bundesrepublik Deutschland überstellt. Hierbei handelt es sich um einen Fall des § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG mit der Folge, dass der Ausschluss gemäß Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift nicht gilt.

Weiterhin liegt keine anderweitige Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des § 27 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylVfG vor. Hinsichtlich seines Aufenthaltes in Bhutan hat der Kläger geltend gemacht, er habe sich deswegen nicht sicher gefühlt, weil sein Aufenthaltsort nicht so weit (3 Fußmärsche während der Nacht) von seinem eigentlichen Heimatort entfernt gewesen sei. Damit hat er glaubhaft gemacht, dass eine Abschiebung in einen anderen Staat, in dem ihm politische Verfolgung droht, nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war, § 27 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG. Dasselbe gilt hinsichtlich seines Aufenthaltes in Nepal. Hierzu hat der Kläger vorgetragen, während der Zeit seines Aufenthaltes in Buda/Kathmandu seien zwei Tibeter nach China zurückgeschickt worden. Dies steht in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland - Ingeborg Reuter - vom 28. Februar 2006, in der von der Abschiebung von 18 Personen von Nepal nach China berichtet wird. Zudem wird auf die Presseberichte über Verhaftungen von Tibetern in Kathmandu nach Demonstrationen im Zeitraum um die Eröffnung der olympischen Spiele verwiesen.

Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung vermochte das Gericht allerdings nicht zu der Überzeugung zu gelangen, dass der Kläger sein Heimatland vorverfolgt verlassen hat.

Der Kläger ist jedoch deshalb als Asylberechtigter anzuerkennen, weil die Verfolgungssituation ohne eigenes neues Zutun im Gastland entstanden ist (objektiver Nachfluchtgrund). Sogenannte objektive Nachfluchttatbestände werden durch Vorgänge oder Ereignisse im Heimatland unabhängig von der Person des Asylbewerbers ausgelöst. Dies ist vorliegend der Fall. Nach der dem Gericht vorliegenden Auskunftslage ist davon auszugehen, dass tibetische Volkszugehörige, unabhängig davon, ob sie sich im Ausland exilpolitisch betätigt haben und ob dies den chinesischen Behörden zur Kenntnis gelangt ist, generell dem Verdacht unterliegen, bei einem längeren Aufenthalt im Ausland staatsfeindliche Bestrebungen verfolgt zu haben, d.h., unter einer Art Generalverdacht separatistischer Bestrebungen stehen und deswegen die begründete Gefahr besteht, bei einer Wiedereinreise in asylrechtlich erheblicher Art und Weise von chinesischen Behörden belangt zu werden. Insofern ist von einer massiven Überwachungs- und Verfolgungspraxis der chinesischen Behörden gegenüber tibetischen Volkszugehörigen auszugehen. Dies gilt umso mehr nach den Unruhen und Auseinandersetzungen, die in dem Zeitraum ab dem 10. März 2008 in Tibet stattgefunden haben (vgl. hierzu im Einzelnen mit weiteren Nachweisen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Herkunftsländer Informationen Aktuell, Volksrepublik China, Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, Seite 8 und 9).

Diese Einschätzung des Gerichts beruht auf folgenden Erkenntnisquellen:

So weist die Tibet Initiative Deutschland, Ingeborg Reuter, in ihrer Stellungnahme vom 28. Februar 2006 in einem Asylverfahren darauf hin, dass ein Tibeter wegen der Asylantragstellung in Deutschland in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen muss. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen haben, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Angehörigen der Han-Chinesen nicht, die im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt würden. In dem Gutachten von Tibetinfonet - Thierry Dodain - vom 24. Juli 2006 an das Verwaltungsgericht Bayreuth wird festgestellt, dass die illegale Ausreise von Tibetern als kriminelles Vergehen besonders hart bestraft wird. Eine Asylantragstellung werde im schlimmsten Fall mit Gefängnis geahndet. Prof. Dr. Oskar Weggel führt in seiner Stellungnahme vom 11. Februar 2007 an das Verwaltungsgericht Ansbach aus, dass Personen (auch legal eingereiste) bei ihrer Rückkehr auf geballtes Misstrauen stoßen und berichtet von der Verhaftung mehrerer aus Indien zurückgekehrter Tibeter, ohne dass von Seiten des chinesischen Staates eine Begründung für die Verhaftung genannt worden sei. Teilnehmer an Demonstrationen oder Flugblattaktionen im Ausland haben seiner Einschätzung nach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit Gefängnis wegen § 103 StGB (Spaltung des Staates) zu rechnen. In der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30. Oktober 2007 an das Verwaltungsgericht Ansbach wird ausgeführt, dass für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen seien, wenn sie im Ausland aktiv für die Unabhängigkeit Tibets und China eingetreten seien, z.B. in Form von Teilnahme an Demonstrationen etc. Im Unterschied zu früheren Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes gilt diese Einschätzung unabhängig davon, ob der betreffende Tibeter eine herausragende Stellung im Rahmen einer exilpolitischen Organisation oder im Rahmen einer Demonstration eingenommen hat. Hierzu führte der Bevollmächtigte der Beklagten Dr. Weyrauch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth - B 5 K 07.30034 - vom 11. Dezember 2007 ausweislich der Niederschrift aus, es bestehe ein gewisser Generalverdacht gegenüber Tibetern, die sich im Ausland aufhielten, auch wenn diese dort nicht durch exilpolitische Tätigkeiten aufgefallen seien. Im Ausland befindliche Tibeter würden generell unter den Verdacht des Separatismus gestellt. Bei separatistischen Tätigkeiten greife der chinesische Staat massiv und hart durch, was auch zu überhöhten Maßnahmen, u.a. auch Folter, führe. Tibeter würden bei staatskritischen Äußerungen oder Handlungen weitaus härter verfolgt und bestraft als Han-Chinesen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth - B 5 K 07.30073 - am 11. Dezember 2007 führte der Vertreter der Beklagten Dr. Weyrauch aus, dass die Volksrepublik China in Deutschland über ein hohes bzw. dichtes Spitzelnetz verfüge. Aufgrund des vorhandenen Spitzelnetzes könne der Teilnehmer einer Demonstration identifiziert werden. Die Volksrepublik China verfüge über die modernsten Mittel zur Aufklärung und Identitätsfeststellung der Exil-Opposition. Im Unterschied zur Behandlung der Han-Chinesen trachte die Volksrepublik China danach, die Flucht von Tibetern zu verhindern. China betrachte bereits das Verlassen des Landes durch einen Tibeter als staatsfeindliches Handeln. Der UN-Folterbeauftragte Manfred Nowak habe berichtet, dass in China sowohl im Bereich der Strafermittlung als auch bei der Strafvollstreckung in hohem Maße Folter angewendet werde. Folter sei in diesen Verfahren quasi Standard. In allen Polizeistationen würden Foltergeräte vorgehalten, so dass auch davon auszugehen sei, dass diese zum Einsatz kämen.

Hiernach ist davon auszugehen, dass frühere Auskünfte des Auswärtigen Amtes, bei denen nicht zwischen Han-Chinesen und tibetischen Volkszugehörigen unterschieden wurde, wonach das illegale Verlassen Chinas zwar strafbar ist, jedoch nur gelegentlich mit einer Geldbuße geahndet wird, nicht mehr zutreffend sind. Das Gericht hält die vorstehend genannten Erkenntnisquellen, die zwischen Han-Chinesen und tibetischen Volkszugehörigen differenzieren, für überzeugend und folgt deren Einschätzung. Denn die chinesischen Behörden gehen abhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der betroffenen Person unterschiedlich vor.

In der von den angeführten Erkenntnisquellen genannten unterschiedlichen Behandlung von Rückkehrern nach China, abhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ist daher eine asylrechtlich relevante politische Verfolgung zu sehen. Diese liegt in der massiven Überwachungs- und Verfolgungspraxis der chinesischen Behörden gegenüber tibetischen Volkszugehörigen, die sich nach illegaler Ausreise längere Zeit im Ausland aufgehalten haben, und deswegen unter einer Art Generalverdacht separatistischer Bestrebungen stehen. Die von dem Kläger befürchtete Verfolgung durch den chinesischen Staat liegt hiernach in Vorgängen und Ereignissen im Herkunftsstaat begründet und ist losgelöst und unabhängig von einem Verhalten des Klägers zu sehen, so dass ein objektiver Nachfluchtgrund gegeben ist. Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass der Kläger durch die Teilnahme an den Demonstrationen vom 20. März 2007 vor dem Chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main, am 04. August 2007 in München und am 08. August 2008 vor dem Chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main, die ausweislich der Zeugen bzw. bzw. des Prozessbevollmächtigten des Klägers ausnahmslos von Mitarbeitern des Chinesischen Generalkonsulates bzw. während des Demonstrationszugs in München von Chinesen fotografiert wurden, besonders in das Blickfeld der chinesischen Behörden geraten sein dürfte.