VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 04.08.2008 - 5 A 134/08 - asyl.net: M14178
https://www.asyl.net/rsdb/M14178
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender geschlechtsspezifischer Verfolgung einer irakischen Staatsangehörigen wegen westlich orientierter Lebensweise.

 

Schlagwörter: Irak, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Bekleidungsvorschriften, Islamisten, Übergriffe, alleinstehende Frauen, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender geschlechtsspezifischer Verfolgung einer irakischen Staatsangehörigen wegen westlich orientierter Lebensweise.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat indes Erfolg, soweit die Klägerin zu 1) die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt.

Durch die Neuregelung in § 60 Abs. 1 AufenthG ist klargestellt, dass auch hier die allein relevante Anknüpfung von Verfolgungshandlungen an das Geschlecht schon das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit asylrelevant sein kann. Geschlechtsspezifische Verfolgungen sind danach die Entrechtung von Frauen, insbesondere durch sexuelle Gewalt. Geschützt sind ebenfalls Frauen, die Verfolgung befürchten müssen, weil sie mit der selbst gewählten westlichen orientierten Lebensweise kulturelle oder religiöse Normen - insbesondere Vorschriften über Kleidung oder das Auftreten in der Öffentlichkeit - übertreten würden oder sich diesen nicht beugen wollen.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin zu 1) hat glaubhaft gemacht, wegen ihrer westlich orientierten Lebensweise, die sich insbesondere in ihrer Bekleidung nach außen darstellt, Opfer von Tätern aus islamisch-fundamentalistischen Kreise geworden zu sein. Im Gegensatz zur Beklagten geht die Kammer davon aus, dass die von der Klägerin zu 1) geschilderten Vorfälle vor ihrer Ausreise aus dem Irak der Wahrheit entsprechen. Die Klägerin zu 1) vermochte in der mündlichen Verhandlung Fragen zu dem Handlungskomplex widerspruchsfrei und überzeugend zu beantworten. Dabei wurde ihre emotionale Betroffenheit deutlich. Die Kammer hat keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit ihrer Angaben.

Frauen, die sich nicht den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften anpassen, unterliegen unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko, Opfer schwerwiegender Angriffe auf ihre physische Integrität zu werden. Ohne Schutz eines Mannes oder des Familienverbundes ist das wirtschaftliche Überleben derartiger Frauen nicht gesichert. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Klägerin zu 1) auch durch ihre in Kirkuk lebende Familie keinen hinreichenden Schutz erwarten kann. Im Hinblick auf die im Heimatland herrschenden islamischen Sitten und Gebräuche gilt die Klägerin zu 1) als Schande für die Familie. Das ist auch der Grund dafür, dass die Klägerin zu 1) nach ihren Angaben von dem Vorfall vor ihrer Ausreise aus dem Irak ihrem hier lebenden Ehemann nichts gesagt haben will. Im Falle der Rückkehr der Familie in den Irak müsste indes davon ausgegangen werden, dass auch dem Ehemann die "Schande" bekannt würde, mit der Folge, dass die Klägerin zu 1) hinreichenden Schutz auch von ihrem Ehemann nicht mehr zu erwarten hätte. Ohne den Schutz eines Mannes oder des Familienverbundes ist aber das wirtschaftliche Überleben derartiger Frauen nicht gesichert. Im Übrigen kann gegen die erzwungene Anpassung an die im Irak herrschende und zunehmend fundamentalistisch geprägte weibliche Geschlechterrolle auch die Familie keinen effektiven Schutz gewährleisten. Dass gilt um so mehr, wenn Frauen nach längerem Aufenthalt im westlichen Ausland in den Irak zurückkehren. Die Klägerin zu 1) müsste in kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen rechnen. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen im Irak hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension erhalten. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich, also nach Kleidung, Verhalten und Gebräuchen, nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (siehe Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2007, Seite 25). Eine Frau wie die Klägerin zu 1) wird zur Überzeugung der Kammer mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines absehbaren Zeitraumes Opfer eines gegen ihre physische Integrität gerichteten Angriffs werden. Von staatlicher Seite hätte die Klägerin insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass die staatlichen Institutionen derzeit nicht in der Lage sind, Frauen effektiv vor diskriminierender Behandlung und gezielten Übergriffen zu schützen, keinerlei Unterstützung zu erwarten (vgl. UNHCR vom November 2005).