OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.07.2008 - 15 A 620/07.A - asyl.net: M14184
https://www.asyl.net/rsdb/M14184
Leitsatz:

Aufhebung und teilweise Zurückverweisung dieser Entscheidung durch das BVerwG mit Urteil vom 11.8.2009, 10 C 11.09 (asyl.net, M18120).

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gefahr für die Allgemeinheit, Straftat, Strafurteil, Raub, Wiederholungsgefahr, Bewährung, Strafrestaussetzung, Bindungswirkung, Unterbringung in Entziehungsanstalt, Drogendelikte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, EMRK, Unterzeichnerstaat, EGMR, PKK, Unterstützung, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Strafverfahren, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; StGB § 57 Abs. 1; StGB § 67d Abs. 2
Auszüge:

Die Berufung der Berufung der Beklagten ist begründet, denn das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.

Ermächtigungsgrundlage für die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG liegen vor, weil der Kläger durch Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 19. Dezember 2000 wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in 2 Fällen, also sogar wegen zwei Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren verurteilt worden ist. Der Kläger ist auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 AufenthG anzusehen.

Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist spezialpräventiv auf die von dem Ausländer konkret ausgehende Wiederholungs- oder Rückfallgefahr abzustellen. Dass bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss, die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt.

Insofern spricht gegen den Kläger bereits das typischerweise hohe Wiederholungsrisiko bei Straftaten, die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nach sich gezogen haben, zumal die im vorliegenden Fall verhängte Strafe die gesetzliche Mindeststrafe um mehr als das Doppelte übersteigt. Die vom Kläger verwirklichten Straftaten gemäß §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB sind der Schwerkriminalität zuzurechnen und bringen das Vorhandensein erheblicher krimineller Energie zum Ausdruck. Der Kläger hat bei den Taten jeweils eine geladene Schusswaffe verwendet. Derartige Tatausführungen sind mit einem besonderen Maß an Gefährlichkeit verbunden, weil die Situation einen unkontrollierten Verlauf nehmen kann. Als Rückfallrate, d.h. die Anzahl der Täter mit Rückfall in Bezug zur Anzahl der Täter insgesamt, wird für Raub von Werten zwischen 10 % bis 25 % ausgegangen (vgl. das in Beiakte 6a enthaltene, für den Kläger erstellte Prognosegutachten der Dres. med. ... vom 10. Juli 2006, Bl. 28). Zu Gunsten des Klägers sprechen nach den Ausführungen des Landgerichts Düsseldorf in dessen Strafurteil vom 19. Dezember 2000 im Wesentlichen sein Geständnis, die Tatsache, dass er nicht vorbestraft war, sowie die Annahme, dass die Überfälle für die Teilnehmer oder Ausrichter illegaler Spielrunden keine besondere psychische Belastung darstellten. Zu Lasten des Klägers ist nach den Ausführungen des Landgerichts dagegen zu berücksichtigen, dass von der gemeinschaftlichen Begehungsweise eine erhöhte Gefährlichkeit für die Opfer ausging und dass sich die zweite Tat über einen Zeitraum von einer Stunde hinzog. Gegen den Kläger spricht weiterhin, dass er im zweiten Fall seine Mittäter angeworben hat und dass bei der zweiten Tat ein - wenn auch möglicherweise klemmendes - Maschinengewehr als Drohkulisse verwendet wurde.

Der Kläger hat durch die begangene Straftat gezeigt, dass er gegebenenfalls bereit ist, zur Erreichung seiner Ziele schwerwiegende Eigentumsdelikte unter Gefährdung von Leib oder Leben von Menschen zu begehen. Im Falle eines Rückfalls wären daher Rechtsgüter von höchstem Gewicht gefährdet.

Auszugehen ist davon, dass die im Zusammenhang mit der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung der Strafgerichte weder die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG zuständigen Behörden noch die Verwaltungsgerichte bindet (vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 1998 1 C 28.97 -, NVwZ 1998, 740 = DVBl 1998, 1019 und vom 16. November 2000 – 9 C 6.00 -, NVwZ 2001, 442 = DVBl 2001, 483; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2003 - 17 B 1338/02 -).

Nichts anderes gilt für Entscheidungen der Strafgerichte, mit denen gemäß § 67d Abs. 2 StGB die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt wird.

Das Bundesamt bzw. das dessen Entscheidungen überprüfende Verwaltungsgericht haben vielmehr eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr zu treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der anzulegende Prognosemaßstab in beiden Fällen ein anderer ist (vgl. zu § 57 Abs. 1 StGB BVerwG, Urteil vom 16. November 2000, a.a.O.; OVG NRW, Beschluss vom 26. Juni 1996 - 17 B 1406/95).

Bei der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stehen naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund (auch wenn gemäß der seit 1998 geltenden Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit besonders zu berücksichtigen ist).

Gemäß § 67d Abs. 2 StGB ist die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. § 67d Abs. 2 StGB weicht in den Voraussetzungen für eine Aussetzung von denen für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ab und ist den Voraussetzungen der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB angeglichen. Die nach § 67d Abs. 2 StGB zu treffende Prognose muss u.a. unter Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes getroffen werden. Die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit muss auch zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Bezug gesetzt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 2 BvR 366/03 -, NStZ-RR 2004, 76 ff.).

Abgesehen davon reicht für die Aussetzung nach § 67d Abs. 2 StGB die Überzeugung des Gerichts aus, dass der Entlassene mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. BGH, Urteil vom 13. August 1997 - 2 StR 363/97 -, NStZ 1997, 594 f. (zu § 56 StGB); Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage 2006, § 67d Rn. 6 ff.).

Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht. Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall an strengeren Kriterien. Unabhängig davon erfordert die ausländerrechtlich erforderliche Prognose – im Gegensatz zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende längerfristige Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -, a.a.O.).

Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu beantworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Bewährungszeit, d. h. wenn der Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefallen ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird.

Schließlich können Umstände, die den Strafgerichten nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind, ebenso wie eine andere Würdigung des feststehenden Sachverhalts zu einer abweichenden Prognoseentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -, a.a.O.).

Die Entscheidungen der Strafgerichte gemäß § 57 Abs. 1 StGB haben nach alledem lediglich die Bedeutung eines - regelmäßig allerdings gewichtigen - Indizes. Hiervon ausgehend rechtfertigt der oben zitierte Beschluss des Landgerichts Kleve nicht die Annahme, dass von dem Kläger auch längerfristig keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG mehr ausgeht. Nach den Gründen des Beschlusses und des diesem zugrundeliegenden Sachverständigengutachtens der Fachärztinnen ... vom 12. Juli 2006 steht die Delinquenz des Klägers in direktem Zusammenhang mir seiner Kokain- und Spielsucht, so dass Abstinenz die absolute Voraussetzung für ein zukünftiges straffreies Leben sei. Zwar hat der Kläger die Weisungen - soweit ersichtlich - bislang beachtet, auch lebt er zur Zeit im Hinblick auf seine Arbeitstätigkeit und seine familiäre Situation - soweit bekannt - in gesicherten Verhältnissen. Dabei darf aber auch nicht übersehen werden, dass er erst seit knapp zwei Jahren aus der Maßregel entlassen ist und damit die strafrechtliche Bewährungszeit bei weitem noch nicht abgelaufen ist. Bei der Bewertung seines Verhaltens in der zurückliegenden Zeit ist daher auch der Druck des drohenden Widerrufs der Aussetzung einerseits und des schwebenden Verfahrens über den Asylwiderruf andererseits zu berücksichtigen. Von daher kann unter Berücksichtigung sämtlicher für und gegen den Kläger sprechenden Umstände derzeit eine positive längerfristige aufenthaltsrechtliche Gefahrenprognose auch über die Bewährungszeit hinaus noch nicht gestellt werden kann.

Die Klage hat schließlich auch insoweit keinen Erfolg, als sie hilfsweise auf die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 AufenthG gerichtet ist.

Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird durch § 60 Abs. 8 AufenthG allerdings nicht etwa von vorn herein ausgeschlossen (vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 (155); BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1 (5) m.w.N.).

Die Voraussetzungen der vorgenannten Abschiebungsverbote liegen aber nicht vor.

Der Abschiebung des Klägers in die Türkei steht weder die Gefahr von Folter oder Todesstrafe (§ 60 Abs. 2 und 3 AufenthG) - die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft - noch die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, EMRK) entgegen. Da die Türkei Vertragsstaat der EMRK ist, besteht eine gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG relevante Mitverantwortung des deutschen Staates, den menschenrechtlichen Mindeststandard im Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung in die Türkei Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 - 1 C 14.04 -).

Der Kläger beruft sich zur Begründung eines Abschiebungsverbots auf eine fortdauernde Gefährdung wegen des vom Verwaltungsgericht Köln im Urteil vom 19. Mai 1995 angenommenen Vorfluchtgrundes. Das Verwaltungsgericht hat seinerzeit angenommen, der Kläger habe jedenfalls mit der Einleitung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens zu rechnen und ihm drohten im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens jedenfalls asylrechtlich erhebliche Haft und Folter. Für die Annahme, dass dem Kläger die Gefahr der Folter auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, bestehen keine Anhaltspunkte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei lediglich 14 Jahre alt war, die Geschehnisse, die damals zu seiner Asylanerkennung geführt haben, mittlerweile fast 18 Jahre zurückliegen, und die Tätigkeit des Klägers sich zudem auch damals darauf beschränkt hat, als Freiheitskämpfer verkleidete Soldaten in der Annahme mit Lebensmitteln versorgt zu haben, es handele sich tatsächlich um Freiheitskämpfer. Wird der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, so wird diese zwar einer Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhaltet. Nur dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstützer der PKK bzw. einer Nachfolgeorganisation nahe steht oder schon vor der Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden hat, muss der Betroffene mit einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -).

Nach Lage der Dinge bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Kläger in der Türkei gefahndet wird, ebenso wenig ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger in der Türkei heute noch wegen Unterstützung der PKK individuell registriert ist, so dass erst recht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Folter oder eine menschenrechtswidrige Behandlung zu verneinen ist. Auch das Verwaltungsgericht hat in der erstinstanzlichen Entscheidung ausgeführt, dass die Wahrscheinlichkeit derartiger Maßnahmen gering sei.

Schließlich ist auch der Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gegeben.

Die vorstehende Beurteilung steht nicht im Widerspruch zu der vom Kläger angeführten Entscheidung (OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05. A -), nach der vorverfolgt ausgereiste türkische Asylbewerber auch gegenwärtig nicht hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung sind. Denn diese Entscheidung bezieht sich lediglich auf eine asylrechtlich relevante Verfolgung, um die es im vorliegenden Verfahren nicht geht, nicht aber auf eine im Rahmen von § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG beachtliche Gefährdung. Überdies lag der Entscheidung des 8. Senats in tatsächlicher Hinsicht ein anderer Sachverhalt zu Grunde, nämlich der Fall eines aktiven Anhängers einer verbotenen gewaltbereiten linksextremistischen Organisation, der sich während einer zeitlich befristeten Haftaussetzung in der Türkei in das Bundesgebiet abgesetzt hatte.