VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 23.07.2008 - 2 A 107/08 - asyl.net: M14206
https://www.asyl.net/rsdb/M14206
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, exilpolitische Betätigung, Änderung der Sachlage, Reformen, Menschenrechtslage, Separatisten, Terrorismus, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der angefochtene Widerrufsbescheid vom 13. August 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Der Widerruf kann nach diesen Maßstäben nicht auf eine nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung (Oktober 2002) nach den o.g. Maßstäben gestützt werden. Die Flüchtlingsanerkennung des Klägers erfolgte, da ihm seinerzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei politisch motivierte Verfolgung drohte wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten, die das Verwaltungsgericht damals als erheblich und exponiert bewertet hat. An diese Bewertung bleiben die Beklagte und das erkennende Gericht infolge der Rechtskraft des Urteils vom 4. September 2002 gebunden; ein Widerruf ohne Wiederaufnahmeverfahren nach § 153 VwGO kann ausschließlich auf eine Änderung der Lage in der Türkei gestützt werden. Die Verhältnisse haben sich jedoch zwischenzeitlich trotz der von der Beklagten dargestellten Reformen in der Türkei nicht so gravierend verändert, dass an dieser Wertung nicht länger festgehalten werden müsste. Zwar ist dem Bundesamt zuzugeben, dass sich die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zwischenzeitlich schon deutlich gebessert haben. Insoweit erweist sich auch die Darstellung in dem angefochtenen Bescheid und in dem gerichtlichen Verfahren im Wesentlichen als zutreffend. Nach den o.g. Maßstäben setzt die Rechtmäßigkeit eines Widerruf aber voraus, dass sich die Verhältnisse im Herkunftsstaat tatsächlich in einer Weise verändert (d.h. verbessert) haben, dass sich eine für die Flucht maßgebliche Verfolgungsmaßnahme auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Eine derartige Prognoseentscheidung lässt sich hier nicht treffen. Denn die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geht nach Auswertung aktueller Erkenntnismittel nach wie vor davon aus, dass es in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere, wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtigt werden. Neben wegen entsprechenden Verdachts vorverfolgten Asylbewerbern gelten als besonders gefährdet Personen, die durch ihre Nachfluchtaktivitäten als exponierte und ernst zu nehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind und die sich dabei nach türkischem Strafrecht strafbar gemacht haben (vgl. OVG NW, Urt. vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A -; Nds. OVG, Urteile vom 25. Januar 2007 - 11 LB 4/06 - und vom 18. Juli 2006 - 11 LB 75/06; OVG Rh.- Pf., Urteil vom 1. Dezember 2006 - 10 A 10887/06.OVG - m.w.N.; zur Rückkehrgefährdung vgl. auch Kaya, Stellungnahme vom 22. Mai 2007 an Rechtsanwalt Dr. Härdle, Bl. 80 ff. GA). Dies gilt insbesondere für Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden.

Nach den Feststellungen im Urteil vom 4. September 2002 gilt dies auch für den Kläger, der wegen seiner Nachfluchtaktivitäten als ernstzunehmender Gegner des Regimes einzustufen ist. Hinsichtlich der für diese Einschätzung maßgeblichen objektiven Verhältnisse in der Türkei lässt sich aus den aktuellen Erkenntnismitteln nicht eine wesentliche nachträgliche und dauerhafte Veränderung feststellen (ebenso VG Stuttgart, Urt. v. 14.1.2008 - A 11 K 4866/07 - in juris; VG Minden, Urt. v. 28.7.2006 - 8 K 275/06.A -; VG Braunschweig, Urt. v. 11.9.2007 - 5 A 316/06 -, VG Hannover, Urt. v. 30.1.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Oldenburg, Urt. v. 4.10.2007 - 5 A 4386/06 -). Diesbezüglich macht sich der Einzelrichter die Würdigung der Erkenntnismittel in den o.g. Entscheidungen zu eigen und verweist auf sie. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften seit Juni 2004 wieder aufgeflammt sind und ein Anstieg von Übergriffen der Sicherheitskräfte erneut zu verzeichnen ist und der Verschärfung des Antiterrorgesetzes am 29. Juni 2006 als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei kann damit jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr ausgesetzt sein wird.