VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 17.07.2008 - A 3 K 606/07 - asyl.net: M14212
https://www.asyl.net/rsdb/M14212
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von turkmenischen Volkszugehörigen im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen einer extremen Gefahrenlage, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp gewährleistet ist; keine besondere Gefährdung von Rückkehrern, die die Annahme einer individuellen Gefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie rechtfertigen würde; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Depression und Schilddrüsenerkrankung.

 

Schlagwörter: Irak, Turkmenen, Gruppenverfolgung, Verfolgungsgrund, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Schilddrüsenunterfunktion, medizinische Versorgung, bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Anerkennungsrichtlinie, Situation bei Rückkehr, Auslandsaufenthalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von turkmenischen Volkszugehörigen im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen einer extremen Gefahrenlage, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp gewährleistet ist; keine besondere Gefährdung von Rückkehrern, die die Annahme einer individuellen Gefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie rechtfertigen würde; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Depression und Schilddrüsenerkrankung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.

1. Die Kläger können die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 60 Abs. 1 AufenthG nicht verlangen.

Insbesondere bestehen auch aufgrund der turkmenischen Volkszugehörigkeit der Kläger keine Anhaltspunkte für eine Verfolgungsgefahr. Die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung turkmenischer Volkszugehöriger liegen nicht vor. Im Irak geht es nicht um die Vertreibung speziell von Angehörigen der Volksgruppe der Turkmenen aus Kirkuk und Umgebung, sondern allgemein um die Verdrängung nicht-kurdischer Bevölkerungsgruppen aus dieser Gegend. Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 29.01.2007 enthält hierzu folgende Aussagen (S. 23): "In Stadt und Region Kirkuk klagen Repräsentanten der arabischen und der turkmenischen Bevölkerungsteile über die Folgen der "Zwangskurdisierung" durch Ansiedlung von bis zu 200.000 kurdischen Neubürgern sowie durch Einführung des Kurdischen als offizielle Amtssprache." Auch hier kommt zum Ausdruck, dass es nicht um Übergriffe gegen Turkmenen gerade wegen ihrer Volkszugehörigkeit geht, sondern dass die - kurdischen oder kurdisch beherrschten - Stellen allgemein versuchen, ihre demographische Situation auf Kosten der anderen Bevölkerungsgruppen in Kirkuk und Umgebung zu verstärken. Die weiteren Angaben im Lagebericht ergeben nichts anderes. Die Festnahme von 17 Turkmenen durch "Bewaffnete" an einem illegalen Kontrollpunkt bei Tikrit am 17.10.2006, wobei die Sunniten unter ihnen entlassen und die Schiiten entführt (und vermutlich ermordet) wurden, verweist vielmehr auf die gegenseitigen Gewalttaten von Sunniten und Schiiten speziell in Bagdad und im sog. Sunnitischen Dreieck, nicht aber auf eine Verfolgung gerade von Turkmenen. Die Tatsache, dass Vertreter der turkmenischen Gemeinde die willkürliche Verhaftung von Angehörigen und deren Folter während deren Haft beklagten, wobei die Behörden diese Maßnahmen mit der Verfolgung von Terroristen begründet hätten, belegt ebenfalls keine Verfolgung gerade von Turkmenen, sondern weist auf die verbreiteten Übergriffe von Sicherheitskräften im Rahmen der Terroristenbekämpfung, unter der alle Bevölkerungsgruppen leiden. Im Übrigen ist die Irakische Turkmenenfront mit einem Abgeordneten im irakischen Parlament vertreten. Selbst wenn eine auf den Raum Kirkuk begrenzte Gruppenverfolgung von Turkmenen bestünde - was zur Überzeugung der Einzelrichterin aus den oben genannten Gründen jedoch nicht der Fall ist -, würde dies jedoch nicht zur Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG führen. Denn in diesem Fall würde es an einer landesweiten, also auch außerhalb des Raumes Kirkuk bestehenden Verfolgung fehlen.

2. Die Klägerin zu 1 hat jedoch Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Die Klägerin zu 1 leidet ausweislich der von ihr vorgelegten ärztlichen Unterlagen (Schreiben des Arztes für Neurologie ... vom 27.11.2006, 25.02.2008 sowie Schreiben der Fachärztin für Innere Medizin Dr. ... vom 30.09.2005, 22.02.2008, 09.07.2008 und 15.07.2008) u.a. an Depressionen und einer Schilddrüsenunterfunktion.

Nach der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 02.08.2005 müssen Quantität und Qualität der Medikamentenversorgung im Irak nach wie vor als unzureichend angesehen werden. Überdies seien bei vielen der in irakischen Krankenhäusern verabreichten Medikamente die Verfallsdaten überschritten. In Apotheken würden auch Präparate minderer Qualität oder Medikamente angeboten, deren Verfallsdatum bereits überschritten sei. Ungeachtet dessen seien die Preise für Arzneimittel extrem hoch. Die regelmäßige und kontinuierliche ärztliche Behandlungen u.a. von Schilddrüsenerkrankungen sei nicht gewährleistet. Eine adäquate Behandlungen psychischer bzw. psychiatrischer Erkrankungen sei im Irak nicht möglich. Nach der ebenfalls zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Auskunft des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien an das Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 21.03.2003 erfolgt die Lieferung von Schilddrüsenhormonen teilweise mit erheblicher Verzögerung und ist eine regelmäßige, lückenlose Versorgung nicht in jedem Fall sicher gewährleistet. Zwar sei die notwendige ambulante Nachsorge mittels Sonografie in den drei kurdischen Provinzen möglich, nicht jedoch eine Radiojoddiagnostik.

Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass aufgrund der nur unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten im Irak bei der Klägerin zu 1 im Falle ihrer Rückkehr in den Irak eine Verschlechterung ihrer Erkrankungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Eine unzureichende medikamentöse Behandlung bzw. Kontrolle ihrer Schilddrüsenerkrankung wird nach der - für die Einzelrichterin anhand der erhobenen Befunde nachvollziehbaren und deshalb überzeugenden - Einschätzung von Frau Dr. ... in ihrer ärztlichen Stellungnahme vom 30.9.2005 zu einer Verschlimmerung ihrer weiterer Leiden führen. Ferner dürften der Klägerin zu 1 Folgeerkrankungen drohen. Ebenso dürfte bei Absetzen der Antidepressiva mit einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 1 zu rechnen sein.

c) Im Fall der Kläger zu 2 bis 4 liegen auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung abzusehen, wenn der Ausländer als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Bei Gefahren in dem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, gilt zunächst, dass diese gem. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Entscheidungen nach § 60 a AufenthG berücksichtigt werden.

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann zwar - zum einen - im Wege verfassungskonformer Auslegung durchbrochen werden, wenn für den Ausländer kein Abschiebestopp nach § 60 a AufenthG besteht, er jedoch gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde ("extreme Gefahrenlage"). Die Einzelrichterin lässt die Frage offen, ob die Voraussetzungen einer extremen Gefahrenlage im Irak vorliegen. Die dann gebotene Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG würde jedenfalls daran scheitern, dass die Kläger zu 2 bis 4 aufgrund der derzeitigen Erlasslage (Erlasse des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 27.11.2003 und vom 29.07.2004 - Az.: 4-13-IRK/12 -, die auf den Beschlüssen der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 21.11.2003 und vom 08.07.2004 beruhen), wonach irakischen Staatsangehörigen Duldungen zu erteilen bzw. erteilte Duldungen zu verlängern sind, gleichwertiger Abschiebungsschutz gewährt wird (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.09.2004 - A 2 S 471/02 -, juris, zu § 53 Abs. 6 AuslG).

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann zwar - zum anderen - aufgrund einer europarechtskonformen Auslegung entfallen. Die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien des Europäischen Union vom 28.08.2007 neu gefasst (BGBl. I, Seite 1970 f.). Die Vorschrift geht auf Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie zurück. Nach Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts als ernsthafter Schaden. Da die Gewährung subsidiären Schutzes nach der Qualifikationsrichtlinie regelmäßig zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führt, die Abschiebestopp-Erlasse aber nur die Aussetzung der Abschiebung und damit die Erteilung einer Duldung vorsehen, darf aus europarechtlichen Gründen nicht von der Prüfung abgesehen werden, ob sich allgemeine Gefahren im Herkunftsland zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung verdichtet haben (vgl. die Pressemitteilung zu den Urteilen des BVerwG, Urt. v. 24.06.2008 -10 C 42.07, 10 C 43.07, 10 C 44.07, 10 C 45.07 -). Abschiebestopp-Erlasse sowie die Gewährung gleichwertigen Abschiebungsschutzes stehen der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG deshalb nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen des Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Selbst wenn im Irak willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i. S. d. Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie bestehen sollte, ergäbe sich hieraus aber keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger zu 2 bis 4. Insoweit müsste zu der allgemeinen Gefahrenlage hinzukommen, dass diese sich individualisierbar in der Person der Kläger zu 2 bis 4 konkretisiert (vgl. Hruschka/Lindner, NVwZ 2007, S. 650 unter Verweis auf VGH Bad.-Württ, Urt. v. 02.09.1993 - A 14 S 482/93 -, juris). Hierfür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte aufgrund des sich auf die allgemeine Lage im Irak beschränkenden Vorbringens der Kläger zu 2 bis 4. Dafür, dass die Kläger zu 2 bis 4 einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wären, weil sie eine Eigenheit haben, welche die Gefahr stark erhöht, dass sie Opfer von Gewaltakten werden bzw. den gewalttätigen Auseinandersetzungen der verfeindeten Milizen oder Gruppen stärker ausgesetzt sind als die im Irak ansässige Bevölkerung, ist zur Überzeugung der Einzelrichterin auch sonst nichts ersichtlich. Insoweit folgt die Einzelrichterin nicht der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (Urt. v. 30.11.2006 - 6 A 372/05 -, juris; Urt. v. 28.12.2006 - 6 A 320/05 -, juris). Nach dieser Rechtsprechung soll die Gefährdungslage für irakische Rückkehrer grundsätzlich deutlich höher einzustufen sein als für im Irak ansässige Bewohner. Dem ist entgegenzuhalten, dass es zwar bestimmte Gruppen gibt, die aufgrund individueller Merkmale, z. B. wegen ihres Berufs als Polizist, Soldat, Arzt, Professor, Friseur u. a., einer erhöhten Gefährdung im Irak unterworfen sind (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 29.01.2007; vgl. auch Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 03.04.2006 an VG Ansbach). Dass aber allein schon ein längerer Auslandsaufenthalt zu einem erhöhten Risiko führt, kann den eingeführten Erkenntnismitteln nicht entnommen werden, und es bestehen hierfür auch sonst keine Anhaltspunkte. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht belegt seine gegenteilige Auffassung nicht anhand von Erkenntnismitteln.