OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.09.2008 - 18 A 855/07 - asyl.net: M14254
https://www.asyl.net/rsdb/M14254
Leitsatz:

Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie bzw. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar (Bestätigung der Rspr. des Senats).

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, besonderer Ausweisungsschutz, Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie, Aussetzung des Verfahrens, Widerspruchsverfahren, Besserstellungsverbot, Daueraufenthaltsrichtlinie, Therapie, Therapieverweigerung, Beurteilungszeitpunkt, Beweisantrag, eigene Sachkunde
Normen: VwGO § 94; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; FreizügG/EU § 6 Abs. 5; RL 2003/109/EG Art. 12
Auszüge:

Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie bzw. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar (Bestätigung der Rspr. des Senats).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag des Klägers auf Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 1 C 35.07 hat keinen Erfolg. Für eine sich nach § 94 VwGO beurteilende Aussetzung fehlen bereits die gesetzlichen Voraussetzungen. § 94 VwGO setzt nämlich ein (vorgreifliches) Rechtsverhältnisses voraus. Dafür reicht es nicht aus, dass sich in einem anderen Verfahren die gleiche Rechtsfrage stellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. November 2006 – 6 B 21.06 –, Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 208; Bay. VGH, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 4 C 96.1848 –, juris; Kuntze in Bader/FunkeKaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 4. Auflage 2007, § 94 Rn. 5).

So ist es hier. Der Kläger erwartet in dem vorgenannten Verfahren eine Entscheidung darüber, ob Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 35; ber. ABl. L 229 vom 29.6.2004, S. 35) über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (Unionsbürgerrichtlinie – im Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG) auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden ist.

Die Berufung des Klägers ist unbegründet.

Es kann offen bleiben, ob – wie der Kläger meint – die mit Wirkung vom 30. April 2006 und damit vor Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung aufgehobene Bestimmung des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie (RL) 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige, die über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 verfügen, weiterhin anwendbar ist (so Dienelt, www.immigrationsrecht.net; ablehnend OVG NRW, Beschluss vom 6. September 2007 – 17 B 603/07 –).

Denn das Ausweisungsverfahren ist unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG durchgeführt worden. Dessen Anforderungen wird – wie hier geschehen – durch das Tätigwerden der Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren entsprochen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 – 1 C 7.04 –, BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110).

Die auf § 55 AufenthG und Art. 14 ARB 1/80 gestützte Ausweisung erweist sich auch materiell als rechtmäßig. Dies hat das Verwaltungsgericht mit zutreffenden Gründen, auf die verwiesen wird (§ 130b Satz 2 VwGO), festgestellt. Die Berufungsbegründung führt zu keiner anderen Beurteilung.

Der Senat teilt insbesondere die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Ausweisung des Klägers nicht den materiellen Beschränkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG unterliegt, der mit § 6 Abs. 5 FreizügG/EU in nationales Recht umgesetzt worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Mai 2007 – 18 B 2389/06 –, NVwZ 2007, 1445 = EZAR NF 19 Nr. 20; Nds.OVG, Urteil vom 27. März 2008 – 11 LB 26/08 –, AuAS 2008, 166 (Ls); Bay. VGH, Urteil vom 8. Januar 2008 – 10 B 07.304 –, juris; a. A. Hess. VGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 – 12 TG 494/06 –, InfAuslR 2006, 393; OVG Rh.–Pf., Urteil vom 5. Dezember 2006 – 7 A 10924/06 –, InfAuslR 2007, 148).

Dass dem Kläger die Durchführung der Therapie während der Haftzeit (durch Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt) nicht gestattet worden ist, vermag an der für ihn ungünstigen Gefahrenprognose nichts zu ändern. Denn diese Prognose beruht – wie allgemein im Sicherheitsrecht – allein auf objektiven Umständen, ohne dass es darauf ankommt, aus welchen Gründen die Therapie unterblieben ist. Dementsprechend ist in der Senatsrechtsprechung geklärt, dass die Absicht, eine notwendige Therapiemaßnahme im Zusammenhang mit einem Strafvollzug in Deutschland durchzuführen, schon wegen der anderweitigen Zielsetzung keinen Vorrang vor einer Ausweisung und deren Vollzug begründet (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Juli 2007 – 18 A 3894/05 –).

Davon ausgehend kann der Kläger im vorliegenden Verfahren nicht erfolgreich einwenden, die Verweigerung der Sozialtherapie während des Haftvollzugs verstoße gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 37 des Zusatzprotokolls. Eine Diskriminierung des Klägers kann hier nicht in der Ausweisung als solche gesehen werden, sondern allenfalls im Zugang zu eine Sozialtherapie während der Dauer der Strafhaft, auf den die Ausländerbehörde keinen Einfluss hat. Deshalb ist der Kläger insofern auf den Rechtsschutz im Rahmen des Strafvollstreckungsrechts zu verweisen. Gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlegung in eine sozialtherapeutische Abteilung kann – wovon der Kläger (erfolglos) Gebrauch gemacht hat – nach § 109 ff. StVollzG bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden. Dagegen ist zudem die Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht gegeben (§ 116 StVollzG).

Der weitere vom Kläger gegen die Gefahrenprognose erhobene Einwand, das Verwaltungsgericht sei abweichend vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. September 2005 (– 1 C 7.04 –, a.a.O. –) von einem falschen Beurteilungszeitpunkt ausgegangen, weil es insoweit nicht auf seinen Entscheidungszeitpunkt, zu dem von ihm wegen seiner Inhaftierung keine Gefahr ausgegangen sei, sondern auf den Zeitpunkt der Haftentlassung abgestellt habe, geht ebenfalls fehl. Zunächst einmal verkennt der Kläger, dass sich die dortigen Ausführungen auf die Frage eines "dringenden Falles" im Sinne des Art. 9 RL 64/221/EWG beziehen und schon deshalb nicht allgemein auf die Gefahrenprognose in Ausweisungsfällen zu übertragen sind. Vor allem aber ist es bei einem inhaftierten Ausländer im Falle seiner Ausweisung gerade typisch für die Gefahrenprognose, dass sie sich insbesondere auf den Zeitpunkt der Haftentlassung richtet und der Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung nur die Bedeutung hat, dass alle bis dahin bekannten Umstände bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind.