VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 15.07.2008 - 36 X 31.08 - asyl.net: M14329
https://www.asyl.net/rsdb/M14329
Leitsatz:

Keine beachtliche Gefahr der Verfolgung kurdischer Volkszugehörigkeit in der Türkei wegen niedrig profilierten exilpolitischen Engagements (hier: Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Sängers).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Sänger, Kurden, exilpolitische Betätigung, beachtlicher Wahrscheinlichkeit, MEDJA-TV, Medienberichterstattung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine beachtliche Gefahr der Verfolgung kurdischer Volkszugehörigkeit in der Türkei wegen niedrig profilierten exilpolitischen Engagements (hier: Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Sängers).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet, denn der angegriffene Widerrufsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling vorliegen, ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ist u.a. die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für einen Widerruf liegen hier vor.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung am 23. Mai 2001 war eine Gefährdung wegen exilpolitischer Aktivitäten nach der Urteilsbegründung ausweislich der seinerzeit vorliegenden Erkenntnisquellen gegeben, da er insbesondere wegen seiner exilpolitischen Betätigung als Sänger bei zahlreichen Veranstaltungen kurdischer Exilorganisationen in der Bundesrepublik insbesondere am 29. April 2000 in der Sendung des kurdischen Senders MEDJA-TV gefährdet sei. Davon weicht die derzeitige Sachlage grundlegend ab. Eine Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung bei einer Rückkehr in die Türkei kommt im gegenwärtigen Zeitpunkt allein bei politisch exponierten Personen in Betracht (OVG Berlin, Urteil vom 25. September 2003 - OVG 6 B 8.03). Nur derjenige, der politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus hinwirkt und damit Einfluss insbesondere auf seine hier lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der Sicht des türkischen Staates ein ernstzunehmender politischer Gegner, den es zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen gilt (Urteil vom 25. September 2003, a.a.O., amtlicher Abdruck, S. 14). Als Beispiel für exilpolitische Tätigkeiten, die nicht geeignet sind, die Aufmerksamkeit staatlicher türkischer Stellen zu erregen und den Asylbewerber zu gefährden (exilpolitische Tätigkeiten niedrigen Profils) sind zu nennen die schlichte Mitgliedschaft in kurdischen Vereinen und die damit verbundene Teilnahme an Vereinsveranstaltungen, die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden, die einfache Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren, die Verteilung von Flugblättern und der Verkauf von Zeitschriften, die Betreuung von Informationsständen und das Verfassen von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitungen (vgl. Rumpf, Gutachten vom 18. Februar 1999 an VG Ansbach, A IX 6, S. 49; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. September 1999 an VG Kassel, A IX 47 b; Kaya, Gutachten vom 24. April 2003 an VG Wiesbaden, AXI 5; ebenso: VGH Mannheim, Urteil vom 22. März 2001 - A 12 S 280/00 -, S. 24 f.; OVG Bremen, Urteil vom 19. März 1999 - OVG 2 BA 118/94 -, S. 94 f.; OVG Hamburg, Urteil vom 19. März 1997 - OVG BtV 10/91 -, S. 59 f.; VGH Kassel, Urteil vom 29. November 2002 - UE 2235/98.A -, S. 25, 28; OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 63). Den türkischen Stellen ist im Übrigen bekannt, dass die Aktivitäten vielfach in erster Linie der Förderung des Asylverfahrens in Deutschland dienen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. September 1999 an VG Kassel, A IX 47 b; amnesty international, Gutachten vom 27. Juli 1999 an das VG Oldenburg, A IX 38). Das Interesse des türkischen Staates gilt daher nicht der Masse der Teilnehmer und Mitläufer, sondern dem Personenkreis, der als Auslöser solcher Aktivitäten und als Organisator von derartigen Veranstaltungen, als Anstifter oder Aufwiegler angesehen wird (OVG Berlin, Urteil vom 25. September 2003, a.a.O.).

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) nicht mehr vorliegen und der Kläger nicht mehr wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Prognosemaßstab BayVGH, Urteil vom 18. Januar 2000 - 8 B 99.30921 -, juris, Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 -, juris, Rn. 26) mit einer Verfolgung zu rechnen hat, der Statusbescheid mithin zu widerrufen ist. Gemessen an dem oben dargestellten Maßstab, erreichen die vom Kläger vorgetragenen Aktivitäten die Gefährdungsschwelle nicht mehr. Das gilt insbesondere für seine weiter zurück liegenden Aktivitäten insbesondere als Sänger kurdischer Lieder bis ins Jahr 2000. Bei dieser Tätigkeit handelt es sich jedoch im insoweit maßgeblichen heutigen Zeitpunkt nicht um exilpolitisch exponierte Handlungen. Der Kläger erscheint derzeit vielmehr als Teilnehmer und Mitläufer und nicht als Auslöser von exilpolitisch exponierten Aktivitäten oder als Organisator von derartigen Veranstaltungen oder als Anstifter oder Aufwiegler.