VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 15.07.2008 - 6 A 1695/08 - asyl.net: M14330
https://www.asyl.net/rsdb/M14330
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; die Flüchtlingsanerkennung ist gem. § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen, wenn der Ausländer zu einer Gesamtstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist, auch wenn die Einzelstrafen drei Jahre jeweils nicht überschreiten; ist die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen, kommt eine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG wegen Umstände, die in den Anwendungsbereich von § 60 Abs. 1 AufenthG fallen, nicht in Betracht.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Sicherheitslage, Gefahr für die Allgemeinheit, Straftat, Strafurteil, Gesamtstrafe, Wiederholungsgefahr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7
Auszüge:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; die Flüchtlingsanerkennung ist gem. § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen, wenn der Ausländer zu einer Gesamtstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist, auch wenn die Einzelstrafen drei Jahre jeweils nicht überschreiten; ist die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen, kommt eine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG wegen Umstände, die in den Anwendungsbereich von § 60 Abs. 1 AufenthG fallen, nicht in Betracht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - ist die mit der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - verbundene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylVfG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Danach wäre im Fall des Klägers ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft zwar ausgeschlossen, denn nach den der Beklagten vorliegenden Erkenntnissen hat sich die durch Anschläge und gewalttätige Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten im Irak gekennzeichnete Sicherheitslage zwischenzeitlich derart verschlechtert, dass in Bezug auf die Zahl der Referenzfälle und der Intensität von Übergriffen von einer Gruppenverfolgung der Angehörigen der jezidischen Bevölkerungsminderheit durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst, c) AufenthG ausgegangen wird (Bundesministerium des Innern, Erlass vom 15.5.2007 - M I 4 -125 421 IRQ/O). Insbesondere der islamisch orientierten Terroristen zugeschriebene Massenmord durch die Bombenanschläge zur Zerstörung der von Jeziden bewohnten Modellsiedlungen Til Ezer und Sibha Sheikh Khidir vom 14. August 2007, bei dem etwa 400 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt worden sind (vgl. Welt vom 17.8.2007 "Zahl der Toten ... steigt auf mehr als 400"; Gesellschaft für bedrohte Völker "Die Yezidi im Irak - November 2007"), hat diese Tatsachenlage bestätigt. Auch die Beklagte geht nach der der Kammer erteilten Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2008 - 420-7406-10/08 - weiterhin von einer Gruppenverfolgung der Jeziden in den nicht kurdisch verwalteten Provinzen des Irak aus.

Im Fall des Klägers ist jedoch der Widerruf aus anderem Grund gerechtfertigt. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG für eine Nichtgewährung des Flüchtlingsstatus sind nachträglich eingetreten. Nach § 60 Abs. 8 AufenthG findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist, oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestes 3 Jahren verurteilt worden ist. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.

Der Kläger ist nicht nur vielfach bestraft worden, sondern auch in einem Fall wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren (Landgericht Hannover vom 04.04.2007). Dabei ist es unbeachtlich, dass es sich bei dieser Freiheitsstrafe um eine Gesamtstrafe handelt, die aus Einzelstrafen gebildet worden ist, die allesamt die 3-Jahres-Schwelle nicht erreichen. Nach dem Gesetzeswortlaut kommt es nur darauf an, dass der Ausländer wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt worden ist. Eine Differenzierung danach, ob eine Gesamtstrafe gebildet worden ist oder eine Einzelstrafe vorliegt macht der Gesetzgeber nicht. Dem Gesetzgeber war bei der Neufassung des § 60 Abs. 8 AufenthG der Mechanismus der Gesamtstrafenbildung bekannt. Durch die fehlende Differenzierung hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass er die Straftäter, die in den "Vorteil" des "Rabatts" durch Gesamtstrafenbildung kommen, bei der Frage der Nichtzuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht anders behandelt wissen möchte, als Straftäter, die für eine einzelne Tat zu der Mindeststrafe von 3 Jahren verurteilt worden sind. Dies ist auch sachlich gerechtfertigt, da insoweit eine vergleichbare kriminelle Energie vorliegt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führt die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren nur dann zum Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft, wenn im Einzelfall eine konkrete Wiederholungsgefahr vorliegt. Dies ist hier angesichts der bisherigen kriminellen Laufbahn des Klägers unter Berücksichtigung der Art der Straftaten, der Höhe der Sanktionen und des zeitlichen Ablauf der Fall.

Der Hilfsantrag hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen der § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG liegen nicht vor. Insbesondere kann sich der Kläger nicht darauf berufen, dass er als Jezide im Irak einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre. Die Rechtsfolgen einer derartigen Verfolgungsgefahr sind abschließend in § 60 Abs. 1 AufenthG geregelt. Wenn eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an § 60 Abs. 8 AufenthG scheitert, kann dies nicht dazu führen, dass aus den bei § 60 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigenden Gründen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG gewährt werden kann. Vielmehr müssen die Voraussetzungen dieser Normen losgelöst vom nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigenden Verfolgungsschicksal erfüllt sein. Dies ist hier nicht der Fall.