Flüchtlingsanerkennung für afghanische Staatsangehörige wegen Homosexualität.
Flüchtlingsanerkennung für afghanische Staatsangehörige wegen Homosexualität.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässigen Klagen sind begründet. Die Bescheide des Bundesamtes vom 09.05.2006 sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§113 Abs. 1 und 5 VwGO), als die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG abgelehnt wurde.
1. Staatliche Maßnahmen, die an eine unabänderliche sexuelle Orientierung anknüpfen, stellen - soweit sie nicht lediglich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dienen - dann eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG dar, wenn sie unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt schlechthin unangemessen zur Ahndung eines Verstoßes gegen die moralischen Wertvorstellungen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988 - 9 C 278.86 -, E 79 143 ff. [153]).
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnissen besteht für homosexuelle Männer in Afghanistan nicht die Möglichkeit, sich offen zu ihrer Homosexualität zu bekennen. Vielmehr ist die Homosexualität sowohl im traditionellen Islam als auch in der gesamten afghanischen Gesellschaft geächtet. Auch wenn es einen Straftatbestand, der sich explizit auf einvernehmliche, gleichgeschlechtliche Handlungen bezieht, im afghanischen Strafgesetzbuch nicht gibt (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand Februar 2008, S. 20) stehen homosexuelle Beziehungen volljähriger Männer nach den meisten Auslegungen des afghanischen Strafrechts unter Strafe (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, dt. Fassung Januar 2008, S. 4). Zudem werden nach dem Recht der Scharia homosexuelle Handlungen mit erheblichen Strafen (bis hin zur Todesstrafe) geahndet (vgl. etwa Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität - Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis 2006, S. 2 f.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand Februar 2008, S. 20). Auch wenn sich seit dem Sturz der Taliban die behördliche und vor allem auch die strafrechtliche Behandlung von Homosexuellen entschärft hat (so etwa Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität - Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis 2006, S. 4), so besteht jedenfalls für den Fall, dass die von der afghanischen Gesellschaft abgelehnte sexuelle Orientierung bekannt werden würde, die Gefahr staatlicher Repressionen "zur Statuierung eines Exempels" (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand Februar 2008, S. 20), und damit eines gezielten, über den Schutz der öffentlichen Ordnung hinausgehenden Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen.
Darüber hinaus können vor allem Übergriffe Dritter auf bekannt gewordene Homosexuelle nicht ausgeschlossen werden. Dies beginnt bereits bei der Familie des Betroffenen, die - auch zur Vermeidung eigener Ächtung durch Dritte - ihn aus der Familie verstoßen würde. Ein Homosexueller, dessen Orientierung bekannt würde, hätte mit vielfältigen Diskriminierungen durch die afghanische Gesellschaft zu rechnen. Die schließt auch die Anwendung von Gewalt mit ein (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, dt. Fassung Januar 2008, S. 4). Ein solches Verhalten zielt auf die Unterdrückung einer von der Bevölkerungsmehrheit nicht akzeptierten sexuellen Orientierung und stellt einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte homosexuell veranlagter Männer dar. Ein dauerhafter staatlicher Schutz ist für diesen Personenkreis nach dem oben Ausgeführten nicht zu erwarten.
Insofern stellen sich die (kumulativ zu berücksichtigenden) Verfolgungshandlungen als asylrelevante Verfolgung im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dar.
Homosexuelle Männer sind daher gezwungen, ihre sexuelle Orientierung zu verheimlichen oder gar zu verleugnen (vgl. Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität - Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis 2006, S. 6). Dies ist den Klägern nicht zumutbar. Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, dass sie selbst bei äußerster Zurückhaltung bereits aufgrund des für Afghanistan ungewöhnlichen Umstandes, dass sie als volljährige Männer nicht verheiratet sind, mit der Aufdeckung ihrer sexuellen Orientierung und den damit verbundenen Folgen (vgl. oben) jederzeit rechnen müssten. Andererseits stellt die sexuelle Identität einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen dar. Wird er gezwungen, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit zu verleugnen, z.B. durch Heirat (vgl. dazu Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität - Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis 2006, S. 6), ist er in seinem Persönlichkeitsrecht unzumutbar und daher in asylerheblichem Maße beeinträchtigt.
2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Homosexualität setzt weiter das Vorliegen einer irreversiblen Homosexualität des jeweiligen Klägers voraus.
Das Gericht konnte die Überzeugungsgewissheit von einer irreversiblen homosexuellen Veranlagung im vorliegenden Verfahren bereits durch die Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 11.07.2008 erlangen. Die Ausführungen der Kläger haben das Gericht von einer wechselseitigen homosexuellen Beziehung der Kläger zu überzeugen vermocht. In der Anhörung in der mündlichen Verhandlung haben die Kläger widerspruchsfrei und für das Gericht nachvollziehbar darstellen können, wie sich ihre Beziehung entwickelt hat und wie sie sich ihre gemeinsame Zukunft vorstellen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sich die Kläger derzeit (noch) nicht offen zu ihrer Homosexualität bekennen, sondern ihre Beziehung verheimlichen, weil sie Angst haben, ihre Landsleute könnten davon erfahren. Vielmehr zeigt das Verhalten der Kläger, welchem sozialen Druck sie sich bereits in der Bundesrepublik Deutschland von ihren Landsleuten ausgesetzt sehen. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, ihre homosexuelle Veranlagung sei nicht im Sinne einer Irreversibilität verfestigt. Im Übrigen haben die Kläger glaubhaft dargelegt, dass sie zu ihrer Beziehung stünden, diese in ihrem engeren Umfeld bekannt sei und sie die Absicht hätten, ihre Beziehung öffentlich zu machen und alsbald eine Lebenspartnerschaft einzugehen.