VG Kassel

Merkliste
Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 09.07.2008 - 6 E 1176/05.A - asyl.net: M14337
https://www.asyl.net/rsdb/M14337
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Misshandlungen, Bedrohung, Oppositionelle, interne Fluchtalternative, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Situation bei Rückkehr, Reformen, PKK, Verdacht der Unterstützung, Aufforderung zur Wehrdienstverweigerung, Strafverfahren, Haftbefehl
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. b
Auszüge:

Die verbliebene, auf teilweise Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2005 und auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtete Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet. Denn dem Kläger steht zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylVfG) steht dem Kläger ein Anspruch auf die Feststellung zu, dass ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt, so dass sich die verfügte Abschiebungsandrohung insoweit als rechtswidrig erweist (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

Das erkennende Gericht macht sich in dieser Hinsicht die Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs im Urteil vom 18. April 2008 (Az.: 4 UE 168/06.A, nicht veröffentlicht) zu eigen, in dem es heißt: ...

Der Kläger gehört zu dem vorgenannten Personenkreis, da ausweislich der Auskunft der Deutschen Botschaft in Ankara an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25. November 2004 (S. 129 ff. des das aktuelle Asylfolgeverfahren betreffenden Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) gegen ihn ein Strafverfahren nach § 301 tStGB n.F. beim "Erstinstanzlichen Strafgericht" ... anhängig ist, in dessen Rahmen gegen den Kläger ein Haftbefehl gemäß den Artikeln 223 und 229 tStPO ergangen ist, so dass der Kläger im Falle seiner Einreise in die Türkei damit zu rechnen hat, festgenommen und verhört zu werden. Es ist in Anbetracht dessen sowie des Umstands, dass das Gericht in ... über das türkische Generalkonsulat in ... ein Rechtshilfeersuchen an die deutschen Justizbehörden gerichtet hat, dem die deutschen Justizbehörden - das Amtsgericht ... in dem Verfahren mit dem ..., von dem das Gericht bereits in einem Verfahren eines anderen türkischen Asylbewerbers Kenntnis erlangt hat - durch Vernehmung des Klägers als Beschuldigten wegen des zusätzlichen Vorwurfs eines Verstoßes gegen Art. 155 tStGB a.F. (Aufforderung zur Wehrdienstverweigerung) nachgekommen sind (S. 20 der Gerichtsakte), davon auszugehen, dass es im Falle der Einreise des Klägers in die Türkei nicht bei einer Festnahme mit anschließendem schlichten Verhör bleiben wird. Denn der Kläger gehört - zu diesem Schluss zwingt die Vorgehensweise der türkischen Justiz im vorliegenden Fall - nach Auffassung der türkischen Strafverfolgungsbehörden offenbar zu dem im Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. April 2008 benannten Personenkreis der Anstifter und Aufwiegler. Der Fall des Klägers weist insoweit eine Besonderheit im Sinne des Urteils des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 02.03.2005 auf. Der erkennende Einzelrichter vermag daher an der im Prozesskostenhilfebeschluss vom 26. April 2006 dargelegten Einschätzung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in die Türkei keine Folter drohe, nicht mehr festzuhalten, zumal im Hinblick darauf, dass nach den oben genannten Erkenntnisquellen Übergriffe insbesondere im (Süd)Osten der Türkei, wo auch gegen den Kläger verhandelt werden würde, häufiger auftreten.

Die Beklagte war daher zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG, das identisch ist mit subsidiärem Schutz nach Art. 15 b) der Richtlinie 2004/83/EG, festzustellen.