VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 08.07.2008 - 7 A 3/08 - asyl.net: M14344
https://www.asyl.net/rsdb/M14344
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Kontingentflüchtlinge, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, Altfälle, El Salvador, Frente Farabundo Marti para al Liberación Nacional, FMLN, Bürgerkrieg, Ermessen, Straftat, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Integration, Erwerbstätigkeit, Ermessensergänzung
Normen: HumHAG § 1; HumHAG § 2b; AufenthG § 103 S. 1; AuslG § 51 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; VwGO 114 S. 2
Auszüge:

Die zulässige und insbesondere rechtzeitig erhobene Klage ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. August 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Widerruf der Rechtsstellung des Klägers nach § 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge vom 22.7.1980 (BGBl. I S. 1057) - HumHAG - ist rechtswidrig.

Die Beklagte hat den Widerruf der Rechtsstellung des Klägers auf § 2 b HumHAG gestützt. Das HumHAG ist zum 1. Januar 2005 außer Kraft getreten. Gemäß der Übergangsregelung in § 103 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Neubekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.3.2008 (BGBl. I S. 313) - AufenthG - findet § 2 b HumHAG jedoch auf Personen, die vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes am 1. Januar 2005 gemäß § 1 HumHAG die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießen, in der bis zum 1. Januar 2005 geltenden Fassung weiter Anwendung.

Gemäß § 2 b Abs. 1 Satz 1 HumHAG kann die Rechtsstellung nach § 1 HumHAG aufgrund einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung widerrufen werden, wenn festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG a.F. - nicht mehr vorliegen.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung des vom Bundesamt vorliegend unter dem 18. August 2006 gegenüber dem Kläger ausgesprochenen Widerrufs seiner Rechtsstellung ist gemäß § 2 b Abs. 2 Satz 2 HumHAG in Verbindung mit § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4.12.2000 - 25 ZB 00.3358 - zur Anwendbarkeit der im AsylVfG enthaltenen gerichtlichen Verfahrensvorschriften auf das Widerrufsverfahren nach dem HumHAG).

1. Der Kläger ist Flüchtling im Sinne von § 1 HumHAG. Zur Überzeugung des Gerichts ist der Kläger 1983 gemäß § 1 Abs. 1 HumHAG im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer in den Geltungsbereich dieses Gesetzes aufgenommen worden. Dies wird auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht in Abrede genommen und durch den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19. Juni 1997 verdeutlicht, mit dem ein Asylantrag des Klägers unter Hinweis auf dessen Kontingentflüchtlingsstatus bereits als unzulässig abgelehnt wurde - 2172884-337 -.

3. Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. in Bezug auf El Salvador nicht mehr vorliegen, d.h. das Leben oder die Freiheit des Klägers im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht mehr wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Kläger war Kämpfer der "Frente Farabundo Marti para la Liberación Nacional" (FMLN). Der Bürgerkrieg in El Salvador ist bereits seit 1992 beendet. Die FLMN hat den Status einer im Parlament El Salvadors vertretenen Partei und nimmt an Wahlen teil (Wikipedia, Stand 9.4.2008). Auch hat das Auswärtige Amt bereits 1997 festgestellt: Der Kläger dürfte aufgrund seiner damaligen politischen Aktivitäten keine weiteren Verfolgungen in El Salvador zu befürchten haben (Auskunft vom 11.9.1997 - 514-516.50 ELS 001 -). Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer an.

4. Die Kammer lässt dahingestellt, ob die Widerrufsermächtigung in § 2 b HumHAG überhaupt auf den Fall des bereits 1983 als Flüchtling in das Bundesgebiet aufgenommen Klägers anwendbar ist. § 2 b HumHAG wurde erst durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29.10.1997 (BGBl. I S. 2584) mit Wirkung ab 1. November 1997 (Art. 4 des Änderungsgesetzes) in das HumHAG eingefügt. Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts kann die Rechtsstellung als Kontingentflüchtling nach § 2 b HumHAG zwar auch widerrufen werden kann, wenn der Ausländer vor dem Inkrafttreten des § 2 b HumHAG am 1. November 1997 als Kontingentflüchtling anerkannt worden ist (Nds. OVG, Beschluss vom 9.7.1999 - 1 L 2380/99 -). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang jedoch festgestellt, dass § 2 b nicht mit Rückwirkung in das Kontingentflüchtlingsgesetz eingefügt worden ist, sondern eindeutig eine konstitutive Gesetzesänderung beabsichtigt war (BVerwG, Beschluss vom 23.3.1999, Buchholz 402.255 § 2 b HumHAG Nr. 1). Hieraus hat das VG Regensburg gefolgert, dass § 2 b HumHAG jedenfalls nicht auf veränderte Sachverhalte Anwendung findet, die vor dem 1. November 1997 eingetreten waren (VG Regensburg, Urteil vom 30.6.2000 - RN K 99.30940 -). Vorliegend war der Bürgerkrieg in El Salvador - wie vorstehend unter 3) ausgeführt - jedoch bereits 1992 beendet. Die Kammer hat deshalb Zweifel, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge überhaupt von der Ermächtigung in § 2 b AsylVfG Gebrauch machen durfte.

5. Die Kammer kann die vorstehende, unter 4) aufgeworfene Rechtsfrage jedoch dahingestellt sein lassen, weil der streitbefangene Widerruf vom 18. August 2006 aus anderen Gründen aufzuheben ist. Denn der Widerruf ist ermessenfehlerhaft erfolgt (a), und die Beklagte hat bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ihre Ermessenserwägungen nicht gemäß § 114 Satz 2 VwGO in rechtmäßiger Weise ergänzt (b).

a. Vorliegend hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in dem angefochtenen Bescheid vom 18. August 2006 auf S. 4 f. zwar im Grundsatz zutreffend das öffentliche Interesse an dem Widerruf der Rechtsstellung des Klägers seinem privaten Interesse an der Beibehaltung dieser Rechtsstellung gegenüber gestellt, jedoch maßgebend auf die strafrechtliche Verurteilung des Klägers und eine hieraus zu schließende Wiederholungsgefahr abgestellt, zu der hinzu komme, dass der Kläger wieder in einer Beziehung lebe, in die ein Kind eingebunden sei, das im ähnlichen Alter sei, wie das Mädchen, an dem er sich seinerzeit vergangen hatte. Außerdem sei der Kläger trotz langen Aufenthalts im Bundesgebiet in einem Alter, in dem ihm die Wiedereingliederung in die Verhältnisse seines Heimatstaates durchaus zugemutet werden könne, auch wenn er nach eigenen Angaben dorthin keine persönlichen Kontakte mehr habe.

Diese Ermessenserwägungen sind zum einen unvollständig. Der Kläger rügt zu Recht, dass seine 2003 geschlossene Ehe mit der in Deutschland aufenthaltsberechtigten rumänischen Staatsangehörigen in dem streitbefangenen Bescheid mit keinem Wort - nicht einmal in der Sachverhaltsdarstellung - Erwähnung findet. Diese Rüge ist bereits im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG erheblich. Das in die Ermessensentscheidung eingestellte Abwägungsmaterial ist damit unvollständig und das Abwägungsergebnis bereits aus diesem Grund fehlerhaft. Zum anderen ist in die Ermessensentscheidung nicht eingestellt, dass sich der Kläger in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis befindet und deutsch spricht, mithin Integrationsvoraussetzungen vorliegen. An die sorgfältige Zusammenstellung des Abwägungsmaterials sind insbesondere dann hohe Anforderungen zu stellen, wenn - wie hier - seit der ersten Einleitung des Widerrufsverfahrens 1998 bis zum Ergehen des Bescheides im Jahre 2006 mehr als acht Jahre vergangen sind.

Des weiteren beruhen die vorgenommenen Ermessenserwägungen auf unzutreffend eingestelltem oder unvollständig gedeutetem Tatsachenmaterial. Dem Kläger wird - im Grundsatz zutreffend - seine strafrechtliche Verurteilung vorgehalten, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass die der Verurteilung zugrunde liegenden Straftaten bereits 1986/1987, mithin 19 bis 20 Jahre vor Erlass des streitbefangenen Bescheides begangen wurden. Die Verurteilung selbst erfolgte - wenn man auf ihre Rechtskraft abstellt - bereits zehn Jahre vor Erlass des Bescheides. Keine Berücksichtigung findet, dass die Strafvollstreckungskammer einen Strafrest zur Bewährung aussetzte und die fünfjährige Bewährungszeit bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheides erfolgreich verlaufen war. Soweit auf eine vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr abgestellt wird, bleibt unberücksichtigt, dass eine solche bereits vom Verwaltungsgericht Hannover in seinem Urteil vom 4. September 2000 - 10 A 6487/98 - jedenfalls gemessen am Maßstab des § 53 Abs. 3 AuslG a.F. nicht festgestellt werden konnte. In der vom Bundesamt vorgenommenen Allgemeinheit wird der Umstand, dass der Kläger Vater einer - nunmehr - fünfjährigen Tochter ist, nur zu seinem Nachteil ausgelegt, ohne zu berücksichtigen, dass der Umstand der Vaterschaft auch nach Art. 6 Abs. 1 GG in die Abwägung einzustellen ist. Unberücksichtigt blieb ebenfalls, dass außer den abgeurteilten - zutreffend schwerwiegenden - Straftaten vom Kläger während der Dauer seines 25-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet keine weiteren Straftaten begangen wurden und insbesondere keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass der Kläger nach Entlassung aus der Strafhaft und Ablauf der Bewährungszeit auch nur eine weitere Straftat begangen hätte. Schließlich lässt die vom Bundesamt als maßgeblich angesehene und unterstellte Wiederholungsgefahr der Begehung einer Straftat durch den Kläger zum Nachteil der gemeinsamen Tochter unberücksichtigt, dass der Widerruf seiner Rechtsstellung nach § 1 HumHAG untauglich wäre, die unterstellte Gefahr für die Tochter zu beseitigen. Denn unterstellt, der Widerruf wäre rechtmäßig und die Ausländerbehörde würde den Kläger in der Folge - unterstellt ebenfalls rechtmäßig - ausweisen, wäre der Kläger nicht gehindert, mit Ehefrau und Tochter gemeinsam auszureisen und die vom Bundesamt unterstellte Gefahr mithin nicht beseitigt, sondern nur in das Ausland verlagert. Der von der Strafvollstreckungskammer hinzugezogene sozialpsychiatrische Gutachter hatte jedoch bereits 1999 - mithin vor acht Jahren - die vom Kläger für die Allgemeinheit ausgehende Gefahr als "fast auf den Nullpunkt verringert" angenommen. Auch diesen Gesichtspunkt hat das Bundesamt nicht berücksichtigt.

Insgesamt leidet die Ermessensentscheidung in dem Bescheid vom 18. August 2006 danach an Fehlern.

b. Das Bundesamt war nach § 114 Satz 2 VwGO berechtigt, seine Ermessenserwägungen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu ergänzen. Das Bundesamt war trotz rechtzeitiger Ladung in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten. Zuvor kann allenfalls der Klageerwiderung vom 19. Dezember 2006 (S. 2) entnommen werden, dass Eheschließung und langjährige Berufstätigkeit des Klägers nunmehr eingestellt werden, jedoch gegenüber dem öffentlichen Interesse (Einhaltung der Rechtsordnung, Schutz vor weiteren Straftaten) zurücktreten müssen. Dabei bleibt jedoch nach wie vor unberücksichtigt, dass konkrete Anhaltspunkte für die Annahme einer Wiederholungsgefahr fehlen und der aufenthaltsrechtliche Status der rumänischen Ehefrau des Klägers seit 1. Januar 2007 der einer EU-Bürgerin und mithin aufgewertet ist.