OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 03.04.2008 - A 2 B 36/06 - asyl.net: M14364
https://www.asyl.net/rsdb/M14364
Leitsatz:

Die Auskunftslage zur Situation konvertierter Christen im Iran ist derzeit ambivalent; Flüchtlingsanerkennung wegen ernsthaften Glaubenswechsels und christlich ausgerichteter Lebensführung.

Schlagwörter: Iran, Konversion, Apostasie, Christen, Methodisten, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Missionierung, Gottesdienste, politische Entwicklung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Die Auskunftslage zur Situation konvertierter Christen im Iran ist derzeit ambivalent; Flüchtlingsanerkennung wegen ernsthaften Glaubenswechsels und christlich ausgerichteter Lebensführung.

(Leitsatz der Redaktion)

Die zulässige Berufung des Beteiligten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben, da der Kläger einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu der Feststellung hat, dass in seinem Fall die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Hinsichtlich des möglichen Anknüpfungspunkts für eine Verfolgung ist nunmehr gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die bereits erwähnte Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 ergänzend anzuwenden. Nach Art. 10. Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion insbesondere die theistische, nichttheistische und atheistische

Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, umfasst.

Gemessen hieran fällt sowohl der Besuch öffentlicher Gottesdienste, als auch die öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung, insbesondere die Missionierung, in den Bereich der durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geschützten religiösen Betätigung (ebenso BayVGH, Urt. v. 23.10.2007, Asylmagazin 12/2007, 15 f.). Nach dem schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers und seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hat der Senat keine Zweifel daran, dass der Glaubensübertritt des Klägers im Jahr 2001 einen ernsthaften Hintergrund hat. Der Kläger hat seither regelmäßig Gottesdienste besucht und am Abendmahl teilgenommen (vgl. Bescheinigungen des Gemeindepfarrers vom 27.5.2002 sowie vom 1.10.2007), Bibelstunden unterrichtet sowie sich in vielfältiger Weise am Gemeindeleben beteiligt. Daneben hat der Kläger nachgewiesen, dass er ebenfalls seit seinem Übertritt innerhalb seines Wohnortes, aber auch in anderen deutschen Städten, mit Billigung des Gemeindepfarrers missionarisch tätig ist, wenn auch nicht in herausgehobener Funktion. Der Senat geht aufgrund dieses glaubhaften Vorbringens des Klägers prognostisch davon aus, dass dieser seine christlich geprägte Lebensweise im Falle seiner Rückkehr in den Iran fortführen, insbesondere an öffentlichen Gottesdiensten teilnehmen wird. In diesem Fall hätte der Kläger nach der Überzeugung des Senats Verfolgungshandlungen i.S.v. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zu befürchten. Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchstaben a, b, und c der Richtlinie zählen dazu die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestrafung.

Bei seiner Einschätzung der für den Kläger bestehenden Verfolgungsgefahr geht der Senat von folgender Auskunftslage aus: Der Senat hat bislang in ständiger Rechtsprechung aufgrund der bis September 2007 bestehenden Auskunftslage das Vorliegen der Gefahr einer politischen Verfolgung wegen in Deutschland erfolgter Konversion verneint; Gleiches galt für die Annahme einer Gefahr wegen des Besuchs von Gottesdiensten (vgl. etwa Urteil vom 24.10.2007 – 2 B 833/05 – unter Verweis auf Urteil vom 28.3.2007 – A 2 B 38/06 -). Dem lag die Wertung zugrunde, dass entsprechend dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.9.2006 missionierende Christen, unabhängig davon, ob es sich um konvertierte oder nicht konvertierte handele, zwar staatlichen Repressionen ausgesetzt sein könnten, sich diese staatlichen Maßnahmen bisher allerdings ganz überwiegend gezielt gegen Kirchenführer und in der Öffentlichkeit besonders Aktive richteten. Referenzfälle für die Gefährdung einfacher Mitglieder von Glaubensgemeinschaften fehlten dagegen. Die Apostasie sei zwar nach Islamischem Recht, nicht aber nach kodifiziertem iranischen Strafrecht mit der Todesstrafe bedroht; im Gegensatz zur Verhängung seien Fälle einer Vollstreckung der Todesstrafe wegen Apostasie in den letzten Jahren nicht mehr bekannt geworden. Apostaten stehe die Teilnahme an Gottesdiensten offen (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das Sächsische Oberverwaltungsgericht vom 15.12.2004 und an das VG Koblenz vom 15.6.2005).

Die seither eingegangenen Erkenntnismittel lassen demgegenüber auf eine Änderung der Auskunftslage schließen, wenn auch deren Reichweite derzeit noch schwer bestimmbar sein dürfte: In seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Mainz vom 29.2.2008 führt das Kompetenzzentrum Orient Okzident Mainz, Geographisches Institut, der Universität Mainz aus, dass die Lage der evangelisch-freikirchlichen Gemeinden im Iran prekär sei. Sie stünden unter strikter Überwachung der iranischen Sicherheitsorgane und Behörden. Alle Gemeindemitglieder müssten mit Ausweisen ausgestattet werden, die mit sich zu führen seien und von denen die iranischen Behörden Photokopien einforderten. Die Behörden erhielten Mitgliederlisten. Neuaufnahmen von Mitgliedern seien beim Ministerium für Information und islamische Rechtleitung zu beantragen. Die Versammlungsorte der Gemeinden und ihre Besucher würden kontrolliert. Da die evangelikal-freikirchlichen Gemeinden wegen ihres Selbstverständnisses das Missionierungsverbot nicht beachteten, zudem in Kontakt mit dem Ausland stünden und von dort regelmäßig finanzielle Unterstützung erhielten, würden häufig Mitglieder unter Spionageverdacht oder des Verdachts auf Konspiration gegen die islamische Republik verhaftet, so dass ein Zusammenhang zwischen der Verhaftung und der Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche auf den ersten Blick nicht bestehe. Laut dem "International Religious Freedom Report 2007" des US-Außenministeriums seien Verhaftungen ohne Vorbringen von Anklagepunkten recht häufig; meist würden die Verhafteten nach einigen Wochen wieder freigelassen; Folterungen kämen regelmäßig vor. Nach dem Amtsantritt von Präsident Ahmadinejad habe sich die Lage der Christen, insbesondere der evangelikal-freikirchlichen, deutlich verschlechtert mit der Folge, dass Konvertiten im Iran ihren christlichen Glauben nicht zeigen und bekennen könnten. Sie würden größte Schwierigkeiten haben, sich mit Glaubensgenossen für Gottesdienste, auch in Privathäusern, zusammenzufinden.

Laut Auskunft des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg vom 1.4.2008 befindet sich seit Dezember 2007 ein Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren, der die Aufnahme des Straftatbestands der Apostasie in das kodifizierte iranische Strafgesetzbuch zum Gegenstand hat. Der geplante Art. 225 sieht als Sanktion für den Abfall vom Islam die Todesstrafe bzw. lebenslange Freiheitsstrafe vor. Das Gesetzesvorhaben habe zu zahlreichen internationalen Protesten geführt; die Europäische Union habe in einer Erklärung vom 25.2.2008 den geplanten Gesetzentwurf als Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Irans kritisiert.

Demgegenüber enthält der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.3.2008 keine Hinweise zu dem Gesetzesvorhaben zur Apostasie. Hinsichtlich der allgemeinen Lage der Christen im Iran vermerkt der Lagebericht vom 4.7.2007 (S. 14), dass am 10.12.2006 nach glaubhaften Angaben von Nichtregierungsorganisationen vierzehn Christen (angeblich Konvertierte) in drei Städten (Teheran, Karaj, Rasht) ohne ersichtlichen Grund verhaftet worden seien. Im Übrigen werden – wie auch im aktuellen Lagebericht vom 18.3.2008 – die Ausführungen aus dem Lagebericht vom 21.9.2006 wiedergegeben, wonach sich staatliche Repressionen bisher ganz überwiegend gezielt gegen Kirchenführer bzw. in der Öffentlichkeit besonders aktive Personen richteten. In der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Mainz vom 31.10.2007 zur Lage der freikirchlich-evangelikalen Christen wird ebenfalls die Einschätzung aus den letzten Lageberichten mitgeteilt und festgestellt, dass Personen, deren Stellung innerhalb missionierender Gemeinden den Grad der bloßen Zugehörigkeit nicht überschreite, bisher von staatlichen Repressionen nicht betroffen seien.

Der Senat bewertet die Auskunftslage zur Situation konvertierter Christen im Iran aufgrund der zitierten aktuellen Erkenntnismittel derzeit als ambivalent, da sich die genannten Quellen teilweise widersprechen und eine Verifizierung dem Gericht nicht möglich ist. So erscheint die Auskunft des Kompetenzzentrums aufgrund ihrer detaillierten Schilderung zwar grundsätzlich als glaubwürdig; sie stimmt zudem mit den im Urteil des OVG Saarland vom 26.6.2007, InfAuslR 4/2008, 183 f., referierten Erkenntnissen u.a. des Schweizerischen Flüchtlingshilfswerks zur Situation von Konvertiten überein. Allerdings fehlen konkrete Quellenangaben zur Informationsgewinnung hinsichtlich der berichteten Überwachungspraxis der christlich-evangelikalen Gemeinden; Referenzfälle werden nicht genannt. Auf der anderen Seite erscheinen die Lageberichte des Auswärtigen Amtes hinsichtlich ihrer pauschalen Verneinung einer Verfolgungsgefahr trotz einzelner Übergriffe auf Christen wenig aussagekräftig; auch hier fehlen zuverlässige Quellenangaben. Dass zudem die geplante Einführung des Straftatbestands der Apostasie im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.3.2008 keine Erwähnung findet, dort vielmehr (weiterhin) ausgeführt wird, der Abfall vom Islam sei lediglich nach islamischem Recht, nicht aber nach kodifiziertem iranischen Strafrecht mit der Todesstrafe bedroht, führt ebenfalls zu gewissen Einschränkungen im Hinblick auf Verlässlichkeit und Aktualität des Berichtes.

Hinsichtlich der geplanten Einführung des Straftatbestands der Apostasie ist derzeit nicht absehbar, ob, wann und ggfs. mit welchen Änderungen die geplante Kodifizierung der Apostasie in Kraft tritt; gänzlich offen ist, wie die Anwendung der Norm in der iranischen Strafrechts- und Vollstreckungspraxis aussehen würde. Trotz der genannten Unwägbarkeiten hat allerdings die bloße Tatsache, dass das iranische Parlament die Apostasie im kodifizierten iranischen Strafrecht unter Strafe stellen will, eine gewisse Indizwirkung für eine deutliche Verschärfung der Situation für zum Christentum konvertierte Muslime.

Der Senat kommt angesichts der geschilderten, möglicherweise im Umbruch befindlichen Auskunftslage trotz der aufgezeigten Unwägbarkeiten zu dem Ergebnis, dass dem Kläger bei Betätigung seiner auf einem ernsthaften Glaubenswechsel beruhenden christlich ausgerichteten Lebensführung im Iran derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen i.S.v. Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie drohen. Zu denken ist zum einen an den Kläger diskriminierende administrative/polizeiliche Maßnahmen bis hin zur Verhaftung, die an den Besuch öffentlicher Gottesdienste einer christlich-evangelikalen Gemeinde anknüpfen, zum anderen an eine im Falle der Verabschiedung des Apostasie-Gesetzes denkbare Strafverfolgung wegen Apostasie.

d) Damit kann offen bleiben, ob der Kläger in Deutschland in einer herausgehobenen, nach außen erkennbaren Funktion missionarisch tätig war, die ihn von den Aktivitäten anderer Apostaten abhebt und die bereits für sich genommen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgungsauslösend gewirkt hätte (vgl. hierzu SächsOVG, Urt. v. 28.3.2007 – A 2 B 630/05 -).