VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 24.06.2008 - RN 8 K 08.30043 - asyl.net: M14377
https://www.asyl.net/rsdb/M14377
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Gruppenverfolgung, Sunniten, beachtliche Wahrscheinlichkeit, Verfolgungsdichte, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Beim Kläger liegt keine der Voraussetzungen des § 60 AufenthG vor.

2. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob eine das Wiederaufgreifen des Verfahrens rechtfertigende Änderung der Sachlage eingetreten ist. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts kann jedenfalls keine Sachlage festgestellt werden, die eine von der letzten gerichtlichen Entscheidung abweichende rechtfertigen könnte.

Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen die allgemeine Sicherheitslage weiterhin hochgradig instabil ist. Ziel vieler Anschläge einer irakischen Guerilla sind nicht nur die irakischen Regierungsorgane und die multinationalen Streitkräfte, sondern auch alle Einrichtungen und Personen, die mit der irakischen Regierung und den sie stützenden Koalitionstruppen zusammenarbeiten oder in den Verdacht einer solchen Zusammenarbeit geraten. Dabei geraten nicht nur hochrangige Personen in Gefahr, sondern auch Angehörige der irakischen Streitkräfte und der irakischen Polizei; selbst Bewerber um Arbeit bei der Verwaltung oder in den Sicherheitsdiensten sind gefährdet. Ziel dieser in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten zwischen den verschiedenen irakischen Bevölkerungsgruppen zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren. Aus den Informationsquellen ergibt sich weiter, dass gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark zunimmt und mancher Orts außer Kontrolle gerät. Opfer von Überfällen, Entführungen und Anschlägen werden überdurchschnittlich Angehörige von Minderheiten, jedoch auch Mitglieder der Bevölkerungsgruppen der Schiiten und Sunniten. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind die Übergriffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG begründen könnten.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG können deshalb nicht im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Klägers zur sunnitischen Religionsgemeinschaft bejahrt werden. Diese religiöse Orientierung des Klägers wird von der Beklagten nicht in Frage gestellt; auch das Gericht hat hierzu zweifeln keinen Anlass. Die Mitgliedschaft in der zweitgrößten konfessionellen Gruppe im Irak, der - bezieht man die sunnitischen Kurden mit ein - etwa ein Drittel der irakischen Bevölkerung angehört, ist nicht geeignet, eine Gefährdung des Klägers zu begründen. Die Sunniten stehen in Auseinandersetzung mit der größten konfessionellen Gruppe im Irak, den Schiiten, die die Mehrheit der irakischen Bevölkerung ausmachen und in den vergangenen politischen Systemen dieses Landes an der Macht kaum beteiligt waren. Sie streben nunmehr die Vorherrschaft im Staat an. Die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten im Irak sind somit Ausdruck eines Kampfes um die Vorherrschaft im Staat. Dieser Machtkampf innerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaft kann nicht gleichgesetzt werden mit der ausgrenzenden Verfolgung religiöser Minderheiten (vgl. Tiedemann in Asylmagazin 11/2007 S. 12 ff). Hinzu kommt, dass angesichts der Größe der beiden Religionsgemeinschaften es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt. Zwar kann den hier vorliegenden Berichten über die Ereignisse im Irak entnommen werden, das sunnitische Zivilisten immer wieder Opfer von Anschlägen und Übergriffen werden, deren Verursacher der schiitischen Bevölkerungsmehrheit angehören. In gleicher Weise werden aber auch schiitische Zivilisten von sunnitischen Tätern drangsaliert oder ermordet. Schiitische Heiligtümer sind sehr oft Ziel von Anschlägen geworden, die zum massenhaften Tod schiitischer Pilger geführt haben und deren Verursacher dem sunnitischen Lager zugerechnet werden. Eine generelle, aus religiösen Gründen bedingte Verfolgung der Sunniten durch die Schiiten einerseits und der Schiiten durch die Sunniten andererseits kann jedoch hieraus nicht abgeleitet werden. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssten vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass darauf für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Diese Anforderungen müssen auch an die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure gestellt werden, deren Handeln - im Gegensatz zur früheren Rechtslage - nunmehr ausdrücklich durch das Zuwanderungsgesetz als schutzbegründend gewertet wird. Davon kann, gerade im Hinblick auf die seit Herbst 2007 beobachtete Besserung der Sicherheitslage im Zentralirak keine Rede sein. Die Situation der Muslime im Irak, die regelmäßig auf den Rückhalt ihres Stammes zählen können, unterscheidet sich insofern in qualitativ erheblicher Weise von der Lage der religiösen Minderheiten wie Christen und Yeziden (vgl. Tiedemann, a.a.O., S. 13).

2. 2. In der Person des Klägers liegen auch keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vor.

Der Kläger hat nach Überzeugung des Gerichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderungen der Verhältnisse eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht zu befürchten, denn staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern in den Irak sind nicht ersichtlich. Eine unmenschliche Behandlung im Sinne dieser Vorschrift liegt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur vor, wenn die Misshandlungen durch staatliche Organe begangen werden (vgl. BVerwGE 99, 331). Das Aufenthaltsgesetz brachte gegenüber dem bisherigen Ausländergesetz insoweit keine Veränderung der Rechtslage.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche konkrete Gefahr konnte der Kläger nicht glaubhaft machen. Dass seine Zugehörigkeit zur turkmenischen Volksgruppe ihn keiner derartigen Gefährdung aussetzt, wurde im Urteil des Gerichts vom 21. Juni 2006 bereits dargelegt. Es ist nicht erkennbar, dass die dort vorgenommene Einschätzung heute nicht mehr zutrifft.

Auch die allgemein problematische Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, welcher der Kläger weiterhin in seinem Heimatland ausgesetzt wäre, rechtfertigt keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG.

Dies gilt auch im Lichte der EU Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie), die mittlerweile in das Aufenthaltsgesetz umgesetzt wurde. § 60 Abs. 7 AufenthG umfasst nunmehr auch die Tatbestandsmerkmale des § 15 c der Qualifikationsrichtlinie, die die subsidiäre Schutzgewährung in Fällen willkürlicher Gewalt in Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten regelt. Gemäß Art. 15 c der Richtlinie ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abzusehen, wenn er dort als Ankläger der Zivilbevölkerung einer ernsthaften individuellen Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt ist. Für den Betroffenen muss also eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib und Leben gegeben sein, eine Verletzung der genannten Rechtsgüter muss gleichsam unausweichlich sein. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Richtlinie stellen Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie zu beurteilen wäre. Für den Kläger ergibt sich somit mangels konkreter individueller Bedrohung und im Hinblick auf die aus den eingeführten Erkenntnisquellen resultierender allgemeinen Situation im Irak auch unter europarechtlichen Gesichtspunkten kein Anspruch auf Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus.