OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.09.2008 - 10 A 10474/08.OVG - asyl.net: M14402
https://www.asyl.net/rsdb/M14402
Leitsatz:

Aktivisten der PKK sind jedenfalls dann von Verfolgung in der Türkei bedroht, wenn sie ein nachhaltiges Engagement an den Tag gelegt haben und damit als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Mitglieder, Aktivisten, politische Entwicklung, Übergriffe, Glaubwürdigkeit, Kämpfer (ehemalige), Lehrer, Übersetzer, Terrorismusvorbehalt, Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, schwere nichtpolitische Straftat, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Wiederholungsgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Aktivisten der PKK sind jedenfalls dann von Verfolgung in der Türkei bedroht, wenn sie ein nachhaltiges Engagement an den Tag gelegt haben und damit als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage nicht abweisen dürfen, da der Kläger die Feststellung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1, 4, 5 und 6 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der QualRL und § 31 Abs. 2 AsylVfG wegen eines für ihn hinsichtlich der Türkei bestehenden Abschiebungsverbotes verlangen kann.

Dabei geht der Senat vorliegend wie auch schon in seiner jüngeren Rechtsprechung davon aus, dass Aktivisten der PKK - ungeachtet der Bestrebungen des türkischen Staates nach einer weiteren Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit - jedenfalls dann, wenn sie ein entsprechend nachhaltiges Engagement an den Tag legen und damit als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind, nach wie vor schwerwiegende - unmenschliche oder erniedrigende - Übergriffe drohen. Darunter sind in Sonderheit solche Aktivisten zu verstehen, die entweder politische Ideen und Strategien entwickeln oder zur Umsetzung solcher Ideen und Strategien Einfluss auf ihre Landsleute nehmen oder sonstige auf eine entsprechende Breitenwirkung zielende Funktionen übernehmen. Diese Schwelle wird dabei etwa dann überschritten, wenn die Betreffenden entweder als Auslöser prokurdischer Aktivitäten, als Organisator von Veranstaltungen oder als Anstifter oder Aufwiegler auftreten oder wenn ihre Vorgehensweisen bzw. Verlautbarungen die Vermutung nahe legen, sie verfügten über besondere Kenntnisse der prokurdischen Szene oder seien gar als Funktionäre in die PKK eingebunden. Gleiches gilt schließlich erst recht, wenn die Betreffenden wegen eines solchen Engagements bereits auffällig geworden waren bzw. dieserhalb gegen sie gegebenenfalls sogar ein Ermittlungsverfahren anhängig ist (vgl. dazu Urteile des Senates vom 12. März 2005 - 10 A 11952/03.OVG - und in dessen Fortführung vom 18. November 2005 - 10 A 10580/05.OVG -).

In diesem Zusammenhang war für den Senat bestimmend gewesen, dass seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Mai 2005 bzw. im Rahmen der dadurch ausgelösten Operationen der staatlichen Sicherheitskräfte auf beiden Seiten wieder Tote zu beklagen waren und die Sicherheitskräfte es vor diesem Hintergrund erneut zu unkontrollierten Handlungen und Übergriffen gegenüber Aktivisten der PKK bis hin zu einer Wiederaufnahme der schon früher eingesetzten Unterdrückungsmechanismen gegenüber der kurdischen Bevölkerung hatten kommen lassen.

Diese Konfliktsituation war in der Folgezeit weiter eskaliert.

War nach Maßgabe dieser Einschätzung des Senates sowohl Ende 2005 als auch - erst recht - Anfang 2008 davon auszugehen, dass Aktivisten der PKK im Falle einer Abschiebung in die Türkei in hohem Maße gefährdet waren, Opfer unmenschlicher und erniedrigender Behandlung zu werden, sofern diese aus der Sicht der Sicherheitskräfte über eine gewisse Meinungsführerschaft oder Multiplikatorenfunktion verfügen, besondere Kenntnisse über die Organisationsstrukturen der PKK besitzen, bereits in der Vergangenheit wegen eines entsprechenden prokurdischen Engagements auffällig geworden waren oder gar auf der Fahndungsliste stehen, so hat sich seitdem an dieser Gefährdungslage nichts geändert. Im Gegenteil ist insoweit festzustellen, dass einerseits die türkischen Sicherheitskräfte im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen mit der PKK zum Jahreswechsel 2007/2008 sogar in den benachbarten Irak vorgedrungen waren und militärische Sperrgebiete außer in den schon genannten drei Provinzen zwischenzeitlich in fünf weiteren Provinzen geschaffen wurden; und ist ebenso festzustellen, dass andererseits die sich bereits seit 2005 abzeichnende Verlangsamung des Reformtempos anhält, Repressalien im Zusammenhang mit der Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit wieder zunehmen, die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen von staatlicher Seite erneut stärker beobachtet bzw. sogar behindert wird und gerade auch Übergriffe durch die Sicherheitskräfte angesichts des unbefriedigend gebliebenen Vorgehens gegen Folterer und der neuerlich zu verzeichnenden Stärkung der Stellung der Verfolgungsbehörden offenbar wieder häufiger vorkommen (vgl. dazu Oberdiek vom 19. März 2008, Nützliche Nachrichten vom 10. Juli 2008, AA Lagebericht vom 11. September 2008).

In diesem Zusammenhang ist der Senat des Weiteren davon überzeugt, dass die Angaben des Klägers, mit denen er seine Verfolgungsfurcht begründet hat, in ihrer Gesamtheit der Wahrheit entsprechen. Hiernach hatte der Kläger schon in den Jahren ab 1995 als Sympathisant der PKK während seiner Studentenzeit im Blickfeld der Sicherheitskräfte gestanden und war gegen ihn von deren Seite Ende 1997/1998 aufgrund seiner Tätigkeit als Zeitungsverteiler für diese Organisation sogar eine Suche eingeleitet worden. Sodann hatte er sich dieser Suche durch seinen unmittelbaren Anschluss an die PKK entzogen, die daraufhin nach einer vorangegangenen Schulung ab September 1998 seinen Einsatz als Lehrer im Camp M. veranlasst hatte. Als solcher war der Kläger über die reine Unterrichtung seiner Schüler hinaus auch anderweitig für die PKK - so durch die Weitergabe deren Informationen und Propaganda an die Bewohner des Lagers, die Betreuung zweier prokurdischer Jugendzeitungen oder im Rahmen von Fernsehberichten - tätig gewesen. Vor diesem Hintergrund hatte die PKK ab April 2005 seinen weiteren Einsatz in Europa geplant, der jedoch durch sein Aufgreifen in Ungarn gescheitert war. Nachdem ihn die PKK nach seiner Rückkehr in das Lager noch zwei Monate mit Übersetzungen beschäftigt hatte, verließ der Kläger schließlich das Lager. Die Ursache hierfür waren Probleme mit der PKK, die in ihm angesichts der Preisgabe seines Reiseweges gegenüber den ungarischen Behörden einen Verräter sah und ihm deshalb auftrug, Propaganda bei seinen Schülern zu machen, um sie so für einen Einsatz als PKK-Kämpfer zu gewinnen, bzw. andernfalls mit seinem eigenen Einsatz in den Bergen rechnen zu müssen. Die vom Kläger daraufhin geplante Niederlassung im Irak scheiterte endlich daran, dass er nunmehr auch von Seiten der dortigen PDK unter Druck gesetzt wurde, entweder für sie in deren Wachstationen Dienst zu tun oder aber an die Türkei ausgeliefert zu werden. Dabei war für seine Flucht mitbestimmend, dass die türkischen Sicherheitskräfte über seine Person und seinen Einsatz als eines PKK-Aktivisten Bescheid wussten und deshalb immer wieder bei seiner Familie vorstellig geworden waren und dabei namentlich seinen Bruder L. wiederholt mit Repressalien überzogen hatten.

Dies zu Grunde gelegt, ist der Senat des Weiteren der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Abschiebung in Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr droht, von Seiten der dortigen Sicherheitskräfte einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden. Auch wenn sich nicht übersehen lässt, dass der Kläger mit seinem Anschluss an die PKK keinesfalls auch deren militärische Ziele unterstützen, sondern seinen Einsatz in dem von ihm erlernten Lehrerberuf erreichen wollte, so handelt es sich bei ihm doch aus der Sicht des türkischen Staates um einen bereits während seiner Studentenzeit wegen seiner prokurdischen Ausrichtung und seines Einsatzes für die PKK aufgefallenen Aktivisten, der sich zudem die damalige Suche nach seiner Person nicht etwa hatte als Warnung dienen lassen, sondern sich daraufhin statt dessen sogar noch enger der PKK angeschlossen hatte, um sich nach entsprechender Schulung als Lehrer und Multiplikator für diese Organisation zu betätigen. Hinzu kommt, dass der türkische Staat darüber hinaus aber auch Grund zu der Annahme hat, dass der Kläger während dieser Zeit seines unmittelbare Anschlusses an die PKK vielfältige Kenntnisse über deren Strukturen und Ziele wie auch über die Gegebenheiten in deren Ausbildungsstätten, dem von ihr beherrschten Camp M. bis hin zu deren militärischen Rückzugsgebieten im Irak erlangt hat, so dass er sich damit gerade angesichts der aufgezeigten Ausweitung der bewaffneten Auseinandersetzungen auf diese Regionen als wichtiger Informant darstellt. Dass der türkische Staat überdies auch deshalb den Kläger in asylrelevanter Weise bedrängen wird, weil er von ihm Einzelheiten über seinen im Jahr 2005 geplanten Einsatz in Europa einschließlich seinem damaligen Fluchtweg und ebenso endlich auch über den Inhalt der von ihm übersetzten organisationsinternen Dokumente in Erfahrung bringen möchte, sei nur noch am Rande erwähnt (vgl. zum Ganzen Oberdiek vom 15. August 2007, Aydin vom 20. September 2007, Kaya vom 26. September 2007 und ai vom 15. November 2007 jeweils an das VG Sigmaringen). Angesichts dessen erscheint schließlich die dem Kläger drohende Verfolgungsgefahr auch nicht etwa deshalb gemindert, weil er zuletzt unter dem Druck der Ereignisse der PKK den Rücken gekehrt hat, vermag dies doch weder etwas an seiner vorherigen, sich über Jahre erstreckende Zugehörigkeit zur PKK noch an seinen während dieser Zeit erlangten vertieften Kenntnisse über diese Organisation und deren Bedeutung für den türkischen Staat zu ändern (vgl. dazu im Übrigen Beschluss des Senates vom 19. Februar 2008 a.a.O.).

Ebenso steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten des Klägers auch nicht der Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG entgegen. Insofern unterfällt der Kläger zunächst nicht dessen Satz 1, 1. Alt., wonach § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung findet, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist. Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, hatte sich der Kläger zwar Anfang 1997 der PKK als Aktivist bzw. gar Kader angeschlossen und war er für diese bis in das Jahr 2005 hinein tätig gewesen. Dieser Anschluss ist indessen vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Kläger sich seinerzeit zu diesem Schritt genötigt gesehen hatte, um sich so dem ihm damals drohenden Zugriff der türkischen Sicherheitskräfte zu entziehen, und dass er dabei zugleich gehofft hatte, auf diese Weise seine Verwendung in seinem erlernten Beruf als Lehrer erreichen zu können. Auch wenn er in diesen Jahren sodann für die PKK nicht nur als Lehrer für die kurdische Sprache, sondern ebenso als Multiplikator und Übersetzer tätig war, so wird doch aus seinem weiteren Vorbringen hierzu deutlich, dass er auch dabei stets auf eine gewisse Distanz zur PKK bedacht war, namentlich aber eine unmittelbare Unterstützung des bewaffneten Kampfes dieser Organisation zu vermeiden trachtete. Angesichts dessen kann des Weiteren auch nicht etwa davon die Rede sein, dass der Kläger mit seinem früheren Anschluss an die PKK die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllt; insofern ist bei ihm gerade eben nicht aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, dass er insbesondere ein Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit oder eine schwere nichtpolitische Straftat begangen oder sonst den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hätte, geschweige denn, dass von ihm gar die Gefahr ausginge, dass er es künftig zu derartigen Verhaltensweisen kommen lassen werde (vgl. dazu Urt. des Senats vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05.OVG - m.w.N.).