Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan, da sie an einer öffentlichen Ausübung ihrer Religion gehindert werden.
Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan, da sie an einer öffentlichen Ausübung ihrer Religion gehindert werden.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht zu der Feststellung verpflichtet, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Hindus sind dort einer sie als Gruppe treffenden nichtstaatlichen Verfolgung ausgesetzt, ohne dass ihnen hierzu eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.
Hinsichtlich der Frage einer Bedrohung wegen der Religion ist jetzt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 ergänzend anzuwenden. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie haben die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion insbesondere die theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, umfasst.
Hierzu hat der 2. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 28.3.2007 - A 2 B 38/06 - ausgeführt:
"Der Wortlaut lässt auf einen weit gefassten Schutzbereich schließen. So ist die Definition der Religion als theistischer, nichttheisitischer und atheistischer Glaubensüberzeugung ebenso weit gespannt wie die verschiedenen Arten der Glaubensüberzeugung (Teilnahme an religiösen Riten; sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen), der Rahmen, in dem die Ausübung des Glaubens stattfindet (im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen) und die Motivationslage der religiösen Handlung (gestützt auf eine religiöse Überzeugung oder nach dieser vorgeschrieben).
Für die Annahme einer Verfolgung genügt indes nicht jede Beeinträchtigung der in diesem Sinne umschriebenen Religionsausübung. Vielmehr bedarf es gemäß Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie einer Verknüpfung der in Art. 10 der Richtlinie genannten Gründe und den in Art. 9 Abs. 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen. Dabei kann es sich sowohl um einmalige oder wiederholte Handlungen derselben Art (Buchst. a) als auch um eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen (Buchst. b) handeln. Stets sind aber nur solche Handlungen als Verfolgung einzustufen, die so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen oder eine Person in ähnlicher Weise betreffen.
Im Ergebnis gehen Art. 9 und Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie damit über die bisherige Rechtsprechung hinaus, ... . Über das danach ausschließlich geschützte "forum internum" kommt unter der Geltung der Richtlinie grundsätzlich auch der Schutz des "forum externum" in Betracht. Voraussetzung ist wegen der nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie erforderlichen Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen jedoch stets, dass sich der Eingriff in die Religionsausübung als mit der Wahrung der Menschenwürde unvereinbar darstellt. Dies kommt zum Einen dann zum Tragen, wenn die Religionsausübung mit Sanktionen verbunden ist, die bereits selbst den Charakter einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie aufweisen (VGH BW, Urt. v. 16.11.2006 - A 2 S 1150/04 -). Zum Anderen kann aber auch die bloße Unterbindung bestimmter Formen der religiösen Betätigung eine Verfolgungshandlung darstellen, wenn unabdingbare Elemente des religiösen Selbstverständnisses des Betroffenen in Rede stehen (so zutreffend: Hinweise des Bundesministerium des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG, S. 9)."
Diese Ausführungen macht sich der Senat für die vorliegende Entscheidung zu Eigen. Gemessen an diesen Maßstäben fällt sowohl der Besuch öffentlicher Gottesdienste als auch die sonstige öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung in den Bereich der durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geschützten religiösen Betätigung (ebenso: SächsOVG, Urt. v. 3.4. 2008 - A 2 B 36/06 -; BayVGH, Urt. v. 23.10.2007, Asylmagazin 12/2007, 15f.).
Hindus sind derzeit in Afghanistan einer sie kollektiv treffenden Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt. Eine öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung ist ihnen nicht ohne konkrete Gefahr für Leib und Leben möglich. Die vorliegenden Erkenntnismittel lassen nur den Schluss zu, dass Hindus in Afghanistan stets mit Verfolgungsmaßnahmen der muslimischen Bevölkerung rechnen müssen, sobald sie religiöse Handlungen im öffentlichen Raum vornehmen. Staatlicher Schutz dagegen ist für sie nicht erreichbar.
aa) Eine Verfolgungsgefahr wegen öffentlichkeitswirksamer religiöser Betätigung folgt noch nicht aus der (verfassungs-) rechtlichen Situation in Afghanistan.
bb) Die Gefahr abschiebungsschutzrelevanter Verfolgung von Hindus im Fall von öffentlichkeitswirksamer religiöser Betätigung ist hingegen in tatsächlicher Hinsicht gegeben.
Das Leben der Hindus in Afghanistan ist von ausgeprägten Vermeidungsstrategien geprägt. Sie versuchen sich in jeder Hinsicht so unauffällig wie möglich zu verhalten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sie andernfalls jederzeit und an jedem öffentlichen Ort Gefahr laufen, massiven Übergriffen der muslimischen Bevölkerung ausgesetzt zu sein.
Die Auskünfte gehen übereinstimmend davon aus, dass die noch in Afghanistan verbliebenen Hindus versuchen, sich nicht als solche zu erkennen zu geben (Auswärtiges Amt - AA -, Lagebericht v. 7.3.2008, S. 15). Die meisten Hindu-Mitglieder verzichteten auf das Anbringen des roten Punktes auf der Stirn, damit sie auf der Straße nicht sofort als Personen hinduistischer Religions- und Volkszugehörigkeit erkennbar sind. Zudem verzichteten sie in der Öffentlichkeit aus eben diesem Grund auf den Gebrauch ihrer Sprache (SFH, a.a.O., S. 9). Diese Vermeidungsstrategie ist insoweit erfolgreich, als es in den letzten Jahren zu keinen allein an die Ethnie anknüpfenden Übergriffen der muslimischen Bevölkerung gekommen sein soll.
Eine Vermeidungsstrategie afghanischer Hindus wird auch für die Feier von religiösen Festen berichtet. Von dem formalen Recht zur Religionsausübung wird wegen fehlender Toleranz der überwältigenden Mehrheit von Moslems und mangels erreichbarem staatlichen Schutz vor Übergriffen kein Gebrauch gemacht (SFH, a.a.O., S. 16; OVG NRW, a.a.O., S. 18) Dies wird damit erklärt, dass es bei größeren Feierlichkeiten zu Ausschreitungen gegenüber den Hindus kam (SFH, a.a.O. S. 18 unter Verweis auf U.S. Department of State v. September 2006). Sofern religiöse Feste in der Öffentlichkeit durchgeführt werden, beschränken sie sich auf ein Minimum. So hätten in den Jahren 2005 und 2006 ein oder zwei religiöse Feiern im öffentlichen Raum stattgefunden. Die Feierlichkeiten hätten sich aber dabei auf einen kurzen Straßenabschnitt beschränkt. Eine gemeinsame Durchführung des Visak-Festes in Jalalabad ist heute aus Sicherheitsgründen und aus Angst vor Übergriffen nicht mehr möglich. Es wird daher in jeder Provinz für sich gefeiert. Dabei werden die Feierlichkeiten zudem aus Angst vor Übergriffen zeitlich von 15 Tagen auf einen Tag reduziert. Das Divolifest wird nichtöffentlich begangen (SFH, a.a.O., S. 18, m. w. N.; s.a. Danesch, a.a.O., S. 11). Die Durchführung dieser Feste mag im Einzelnen gewissen Variationen unterliegen. Sie werden jedoch traditionell öffentlich begangen und sind ein zentraler Bestandteil der Religionsausübung (Danesch, a.a.O., S. 10; a.A. OVG NRW, a.a.O., S. 20 f. unter Hinweis auf nicht konkretisierte Auskünfte). Der von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft faktisch erzwungene Verzicht auf ihre (öffentliche) Durchführung oder auch die massive räumliche und zeitliche Beschränkung dieser Feste als Ausdruck einer Vermeidungsstrategie einer Minderheit stellt eine schwerwiegende Verletzung der afghanischen Hindus in ihrem Recht auf eine freie öffentliche Religionsausübung dar, weil hierdurch massiv in ihr religiöses Selbstverständnis eingegriffen wird (Danesch, a.a.O., S. 1Of.; a.A. OVG NRW, a.a.O., S. 20). Ihre Religionsausübung wird im Wesentlichen nur so weit geduldet, als sie für die muslimische Mehrheitsgesellschaft nicht wahrnehmbar ist.
Wenn es für Hindus aus religiösen Gründen nicht möglich ist, sich unauffällig in der sie umgebenden muslimischen - und religionsintoleranten - Gesellschaft zu verhalten, sind sie schutzlos den Übergriffen der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt (s. SFH, a.a.O., S. 16 f.; Danesch, a.a.O., S. 4). Dies zeigt sich auch an der nicht bestehenden Möglichkeit zu einer ihrem Glauben entsprechenden Verbrennung ihrer Toten.
Der Verbrennung der Verstorbenen kommt im hinduistischen Glauben eine zentrale Bedeutung zu (SFH, a.a.O., S. 18; zu den Einzelheiten s. Danesch, a.a.O., S. 6 f). Zu den Möglichkeiten der rituellen Totenverbrennung liegen unterschiedliche Aussagen vor. So wird berichtet, dass es den Hindus grundsätzlich gestattet sei, Verstorbene gemäß ihren religiösen Riten zu bestatten. In der Regel erfolge dies ohne Zwischenfälle, da die Verbrennung innerhalb der "Wohn-Compounds" stattfinde, in denen die Hindugemeinschaften lebten. Sofern Verbrennungen öffentlich stattfänden, könne es zu Störungen durch Anwohner kommen. Einen solchen Fall habe es im Sommer 2007 gegeben. Dieser sei aber unter Vermittlung der Vereinten Nationen geklärt worden und die Verbrennungen könnten weiterhin stattfinden (AA v. 22.1.2008 an VG Karlsruhe). Nach Darstellung von Danesch könnten Hindus hingegen weder in Kabul noch anderswo in Afghanistan die rituellen Vorschriften über die Verbrennung der Toten befolgen (a.a.O., S. 6). Von ihrem angestammten und in ihrem Eigentum stehenden Verbrennungsplatz im Süden von Kabul im Viertel "Kalatsche" seien sie mehrmals von der dortigen muslimischen Bevölkerung unter Anwendung von Gewalt vertrieben worden. Die zur Hilfe gerufene Polizei sei nicht erschienen, so dass die Trauergemeinde unter Mitnahme ihrer Toten vor der muslimischen Menge hätte flüchten müssen. Im Widerspruch zu ihren religiösen Geboten seien sie darauf verwiesen, ihre Toten im ehemaligen Kabuler Zentraltempel in Kart-e Parwan zu verbrennen. Aus Angst vor Übergriffen gingen sie dabei so verstohlen wie möglich vor (Danesch, ebd.). Auch nach Darstellung der SFH haben afghanische Hindus noch immer keinen Platz, an dem sie ihre Toten entsprechend ihrem Glauben verbrennen könnten. Auch sie verweist auf Berichte, denen zufolge die traditionelle Verbrennungsstätte wegen Übergriffen der ortsansässigen Bevölkerung nicht genutzt werden könne (a.a.O., S. 18 f.). Auch nach den Erkenntnissen der SFH finden die Verbrennungen im Tempel von Kart-e Parwan statt. Aber auch dort soll es zu Protesten der Nachbarn gekommen sein (Afghan Hindu und Sikh Verband Deutschland e.V. - Afghan Hindu e. V. -, Zur Lage der Hindus und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, von Januar 2006, S. 9). Einen nach Informationen der SFH (a.a.O., S. 17) im April oder Mai 2007 auf Intervention des Vorstehers der Hindu-Gemeinde, Ravindar Singh, von Präsident Karzai an der Jalalabad-Straße zugewiesenen Verbrennungsplatz könnten die Hindugemeinde - wegen der weiten Entfernung - nur nutzen, "wenn die Security da ist".
Hiernach ergibt sich der Eindruck, dass Totenverbrennungen auf den angestammten und wohl öffentlich einsehbaren Plätzen derzeit nicht möglich sind, jedoch auf dem vorgenannten Tempelgelände Verbrennungen erfolgen, welche nicht den religiösen Vorschriften entsprechen und als alternativloser Notbehelf angesehen werden müssen. Diese Praxis ist Ausdruck der Suche nach einem Minimum an religionskonformen Totenritualen unter weitgehender Vermeidung einer Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer Durchführung, um unkontrollierte Übergriffe der moslemischen Mehrheitsgesellschaft zu verhindern. Diese erzwungene Praxis widerspricht den religiösen Verpflichtungen der Hindus (Danesch, a.a.O., S. 6 ff.). Dabei schließt selbst dieses Ausweichen auf das Tempelgelände Konflikte nicht aus. So berichtet Danesch davon, dass die Anwohner gegen die Verbrennung auf dem Tempelgelände protestieren und die Drohung ausgestoßen wurde, den Tempel zu zerstören, wenn sie weitere Verbrennungen dort vornähmen (S. 8); ähnlich Afghan Hindu e. V., a.a.O., S. 9). Mangels gangbarer Alternativen werden die Toten dort jetzt "etappenweise" verbrannt, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erzeugen (Danesch, a.a.O., S. 9).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Hindus als kleine Minderheit in Afghanistan, deren Zahl von 1992 bis heute von 50 - 200.000 Mitgliedern auf 2.500 - 5.000 Mitglieder geschrumpft ist (SFH, a.a.O., S. 5 f.; Afghan Hindu e. V., a.a.O., S. 3), für den Fall öffentlicher Religionsbetätigung, insbesondere im Zusammenhang mit der Veranstaltung von religiösen Festen und der Durchführung von Totenritualen, einer kollektiven Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sind, da sie den mit Gefahr für Leib und Leben verbundenen Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schutzlos ausgeliefert sind.