VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 18.08.2008 - A 7 K 277/07 - asyl.net: M14409
https://www.asyl.net/rsdb/M14409
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Angehörige einer als "Terroristenfamilie" angesehenen kurdischen Familie wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Kurden, Änderung der Sachlage, PKK, Verdacht der Unterstützung, Sippenhaft, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Folter, Rechtskraft, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Angehörige einer als "Terroristenfamilie" angesehenen kurdischen Familie wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27.02.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte sowie der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) liegen nicht vor.

Dabei kommt die Klägerin nach den tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts Karlsruhe in seinem rechtskräftigen Urteil vom 11.11.1997 (A 1 K 12276/97) in den Genuss des sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs. Denn ausweislich der Entscheidungsgründe hat das Gericht angenommen, dass die Klägerin vor dem Hintergrund, dass ihre gesamte Familie verdächtig war, die PKK zu unterstützen, mit erheblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, erneut mit einem polizeilichen Ermittlungsverfahren mit damit einhergehenden Misshandlungen überzogen zu werden. Das Gericht hat ferner ausdrücklich festgestellt, dass es das Verfolgungsvorbringen der Klägerin für glaubhaft hält.

Ausgehend hiervon hat die Beklagte bereits jede Darlegung vermissen lassen, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei gerade in Bezug auf die Klägerin nunmehr erheblich und dauerhaft geändert haben. Sie hat sich Kern auf die allgemeine Darlegung beschränkt, die Rechtslage und die Menschenrechtssituation in der Türkei hätten sich deutlich zum Positiven verändert. Der Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG setzt jedoch eine speziell auf die Lage der Klägerin bezogene Gegenüberstellung der maßgeblichen aktuellen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung voraus. Bereits diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheid nicht gerecht.

Unabhängig davon vermag das Gericht nicht festzustellen, dass sich die maßgeblich in den Blick zu nehmende Situation von individuell vorverfolgten bzw. vorbelasteten türkischen Asylbewerbern kurdischer Volkszugehörigkeit wie der Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei erheblich bzw. nachhaltig geändert hat. Entscheidend sind insoweit nicht die vom Bundesamt in seinem Widerrufsbescheid angeführten Veränderungen der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland Türkei. Entscheidend ist vielmehr, dass das Gericht nicht mit hinreichender Verlässlichkeit feststellen kann, dass aufgrund dieser Umstände auch die Gefahr einer Wiederholung der individuellen Verfolgung der Klägerin weggefallen ist (vgl. hierzu Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, § 73 AsylVfG Rdnr. 19).

Das Gericht verkennt nicht, dass in der jüngeren Vergangenheit in der Türkei ein umfassender Reformkurs eingeschlagen und fortgeführt wurde mit dem Ziel, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Europäischen Union gerade auch im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen. Diese Bemühungen haben zur Verabschiedung von zunächst 8 Gesetzespaketen geführt, darunter weit reichende Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007, S. 28 ff.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 -; Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 - Juris). Ein Kernpunkt dieser Neuregelungen sind auch Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter.

Vor dem Hintergrund dieser gesetzgeberischen Reformbemühungen nimmt die Beklagte an, türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die sich Verfolgungsmaßnahmen wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Guerilla oder sonstigen Repressalien im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften durch Flucht ins Ausland entzogen hätten, seien heute bei einer Rückkehr in die Türkei mit hinreichender Sicherheit keinen Repressalien dieser Art bzw. staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang mehr ausgesetzt. Diese Auffassung teilt das Gericht nicht. Derzeit ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass der Reformprozess bereits weit genug fortgeschritten ist, um die Gefahr von Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung in Bezug auf die Klägerin mit hinreichender Sicherheit ausschließen zu können.

Entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, dass die Menschenrechtspraxis in der Türkei erheblich hinter den verbesserten rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der vom türkischen Gesetzgeber eingesetzten gesetzgeberischen Mittel, Folter und Misshandlung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Poltik" zu unterbinden, kommt es deshalb nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch die türkischen Sicherheitskräfte (vgl. Lagebericht vom 25.10.2007, S. 29; Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007). Der erforderliche Mentalitätswandel hat noch nicht alle Teile der Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 28). Eine der Hauptursachen dafür ist die nicht effektive Strafverfolgung von Foltertätern (vgl. den Lagebericht vom 25.10.2007, S. 29, in dem die Lage als "unbefriedigend" bezeichnet wird; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), Türkei - Zur aktuellen Situation - Oktober 2007, S. 9). Nach Angaben des Justizministeriums erfolgen bei Folterverdächtigten letztlich nur in 10 % der angezeigten Fälle Verurteilungen (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 31). Strafprozessuale Bestimmungen, etwa im Zusammenhang mit ärztlichen Untersuchungen von Inhaftierten, werden nicht durchgehend angewandt, was den Nachweis von Folter und Misshandlungen und damit die strafrechtliche Verfolgung der Täter schwierig macht (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 30; Fortschrittsbericht der EU-Kommission, a.a.O.). Auch derzeit verurteilen türkische Gerichte noch auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (Oberdiek, Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, Januar 2006; Lagebericht vom 25.10.2007, S. 31). Folter wird mithin immer noch - wenn auch vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden - praktiziert, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, diese wirksam zu unterbinden (Lagebericht vom 25.10.2007; OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A - und v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -). Dabei kann zwar festgestellt werden, dass die Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zu der Situation vor 2001 zurückgegangen sind (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 30; Oberdiek, Gutachterliche Stellungnahme vom 25.05.2007 an VG Schleswig; Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), a.a.O., S. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 17.04.2007, a.a.O.). Indes war in den Jahren 2006 und 2007 ein Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung zu verzeichnen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), a.a.O., S. 8; Oberdiek, a.a.O.). Auch liegen keine zuverlässigen Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang es zu inoffiziellen Festnahmen durch Sicherheitskräfte in Zivil mit anschließender Misshandlung oder Folter kommt (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 31). Nach wie vor wird jedoch von Fällen von Folter und Misshandlung speziell vor Haftantritt bzw. in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen berichtet (vgl. Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007, ec.europa.eu).

Risikoerhöhend wirkt sich dabei das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus (Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O.).

Die Annahme, dass in den Fällen vorverfolgter Asylbewerber aus der Türkei nunmehr generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit besteht, ist auch nicht aufgrund des in der angefochtenen Entscheidung wie in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 25.10.2007) hervorgehobenen Umstandes gerechtfertigt, dass in den vergangenen Jahren keine Fälle bekannt geworden sind, in denen in die Türkei abgeschobene Personen gefoltert oder misshandelt worden wären. Denn im Rahmen der Risikobewertung ist zu berücksichtigen, dass sich nach den vorliegenden Erkenntnissen unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen keine Personen befunden haben, die der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation verdächtigt worden sind (vgl. Kaya, Gutachten v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O.). Derartige Personen sind in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden oder ihnen ist zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden. Aus dem Fehlen von Referenzfällen kann deshalb nicht der Schluss gezogen werden, dass nunmehr alle in die Türkei zurückkehrenden Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit unabhängig von den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls vor politischer Verfolgung sicher seien (vgl. hierzu Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O., sowie Beschl. v. 14.09.2006 - 11 LA 43/06 -; zur Beurteilung der Gefährdungssituation von Rückkehrern bei Vorliegen von "Besonderheiten" vgl. auch Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urt. v. 22.07.1999 - A 12 1891/97 -, v. 07.10.1999-A 12S 981/97-, v. 10.11.1999 - A 12 S 2013/97 - und v. 22.03.2001 - A 12 S 280/00 -, v. 07.05.2002 - A 12 S 196/00 - und vom 25.11.2004 - A 12 S 1189/04).

Insgesamt hat sich deshalb die Lage in der Türkei nach Erlass des zur Asylanerkennung der Klägerin verpflichtenden Urteils (zum maßgeblichen Zeitpunkt vgl. BVerwG, Urt. v. 08.05.2003, a.a.O.) nicht erheblich und nachhaltig so verändert, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Annahme einer hinreichenden Verfolgungssicherheit auch für (potentielle) Rückkehrer rechtfertigt, die in asylrechtlich relevanter Weise in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten waren und bei denen sich ein aus der Zeit vor ihrer Ausreise fortbestehender Separatismusverdacht ergibt (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 08.12.2006 - A 7 K 99/06 - und v. 02.02.2007 - A 5 K 696/06 -; VG Stuttgart, Urt. v. 30.06.2008 - A 11 K 304/07 - Juris m.w.N.; VG Ansbach, Urt. v. 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -; VG München, Urt. v. 07.02.2008 - M 24 K 07.50987 - Juris; VG Mainz, Urt. v. 03.07.2008 - 1 K 213/08.MZ). Die Klägerin ist wegen Unterstützung der PKK bzw. wegen des Verdachts von Unterstützungshandlungen vor ihrer Ausreise bereits in Erscheinung getreten und hat aus diesem Grund die besondere Aufmerksamkeit der türkischen Sicherheitskräfte erweckt. Es kann daher nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sie weiterhin im Blickfeld der Sicherheitsorgane steht und im Falle einer Rückkehr asylrechtlich erheblichen Maßnahmen ausgesetzt sein wird. Dies gilt um so mehr, wenn berücksichtigt wird, dass eine Vielzahl von Angehörigen der Klägerin wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten ist (vgl. nur die Urteile des VG Karlsruhe vom 03.06.2002 <A 7 K 12313/00 ...>, vom 12.11.2004 <A 5 K 10048/03 ...> und vom 21.10.2005 <A 7 K 11148/04 ...>, vgl. auch die Urteile vom heutigen Tage in den Verfahren A 7 K 532/07 ... und A 7 K 537/07 ... u.a.). Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die Klägerin als Mitglied einer "Terroristenfamilie" angesehen wird und deshalb einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt ist.