VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 03.11.2008 - 19 CS 08.2553 - asyl.net: M14412
https://www.asyl.net/rsdb/M14412
Leitsatz:

Es ist den Familienangehörigen eines ausgewiesenen Ausländers, die als Flüchtlinge anerkannt sind, nicht zuzumuten, in ihr Herkunftsland auszureisen, um die familiäre Lebensgemeinschaft aufrecht zu erhalten; Zeiten des geduldeten Aufenthalts im Anschluss an eine Ausweisung sind bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung im Rahmen von Art. 8 EMRK zu berücksichtigen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Abschiebungsandrohung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Schutz von Ehe und Familie, EMRK, Verhältnismäßigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Entscheidungszeitpunkt, Duldung, Aufenthaltsdauer, Konventionsflüchtlinge, Familienangehörige, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; EMRK Art. 8
Auszüge:

Es ist den Familienangehörigen eines ausgewiesenen Ausländers, die als Flüchtlinge anerkannt sind, nicht zuzumuten, in ihr Herkunftsland auszureisen, um die familiäre Lebensgemeinschaft aufrecht zu erhalten; Zeiten des geduldeten Aufenthalts im Anschluss an eine Ausweisung sind bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung im Rahmen von Art. 8 EMRK zu berücksichtigen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, dass dem Antragsteller die begehrte Aufenthaltserlaubnis nicht zusteht. Es hat jedoch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung (vgl. Nr. 3 des Bescheides vom 5.6.2008 sowie § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO, Art 21 a VwZVG, § 80 Abs. 5 VwGO) zu Unrecht abgelehnt.

Die Abschiebungsandrohung beruht - ebenso wie die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis durch Nr. 1 des Bescheides vom 5. Juni 2008 - maßgeblich auf der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 11. Februar 2002. Sie ist an Art. 8 EMRK zu messen. Derzeit kann nicht mit der für das einstweilige Rechtsschutzverfahren erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, das sie im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Maßstäbe angemessen und verhältnismäßig ist.

1. Die Prüfung der Abschiebungsandrohung anhand der zu Art. 8 EMRK entwickelten Maßstäbe ist nicht - wie das Verwaltungsgericht meint - deshalb verzichtbar, weil das Verfahren betreffend die Ausweisungsverfügung vom 11. Februar 2002 zu Ungunsten des Antragstellers abgeschlossen ist.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind die Voraussetzungen des Art. 8 EMRK für den Zeitpunkt zu prüfen, in dem die Ausweisung rechtskräftig geworden ist (vgl. zuletzt die Entscheidung vom 28.6.2007 <Kaya> RdNr. 57 InfAuslR 2007, 325). Nach der autonomen Begrifflichkeit der Konvention ist (abgesehen von der Auslieferung) jede Maßnahme eine Ausweisung, mit der ein Fremder zum Verlassen des Territoriums gezwungen wird, in dem er sich rechtmäßig aufhält (EGMR vom 5.10.2006 <Bolat> Az. 14.139/03). Daher fällt auch eine Aufenthaltsbeendigung im Zusammenhang mit einer Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis (vgl. Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 5.6.2008) in den Bereich des Art. 8 EMRK (Entscheidung vom 2.8.2001 <Boultif> RdNr. 1 InfAuslR 2001, 476) sowie jede andere auf Durchsetzung der Aufenthaltsbeendigung gerichtete Maßnahme (Entscheidung vom 15.1.2007 <Sisojeva> RdNr. 92 ff. InfAuslR 2007, 141).

b) Die Forderung des Gerichtshofes nach einer Prüfung für den Zeitpunkt, "in dem die Ausweisung rechtskräftig geworden ist", ergibt sich aus dem Umstand, dass Art. 8 EMRK - unabhängig von nationalen Vorschriften - Maßstäbe für die Vereinbarkeit der tatsächlichen Aufenthaltsbeendigung mit der Konvention setzt. Mit seiner Formulierung ordnet der Gerichtshof die Überprüfung dem letzten tatsachengerichtlichen Verfahren vor der Aufenthaltsbeendigung zu und gewährleistet dadurch die Einbeziehung der gesamten Aufenthaltsdauer. Mit Rücksicht auch auf diese Spruchpraxis des Gerichtshofs hat das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage in Ausweisungsverfahren modifiziert und entschieden, dass auf einen möglichst späten Beurteilungszeitpunkt abzustellen ist (Entscheidung vom 15.11.2007 InfAuslR 2008, 156; Juris-RNr. 15), also auf eine möglichst aktuelle, d.h. nicht bereits überholte Tatsachengrundlage (Juris-RNr. 16).

Der Antragsteller hat sich bis zum Jahr 2002 rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Danach ist ihm zwar ein Aufenthaltstitel nicht mehr erteilt worden; er wurde ausgewiesen. Gleichwohl wurden ihm Duldungen (insbesondere wegen fehlender Abschiebungsmöglichkeiten) erteilt. Sein weiterer Aufenthalt war somit nicht illegal, steht in einem wesentlichen Zusammenhang mit den vorher erteilten Aufenthaltsbefugnissen und muss daher im Rahmen des Art. 8 EMRK ebenfalls berücksichtigt werden. Einer aktuellen Würdigung kommt vorliegend besondere Bedeutung zu. Seit der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung (Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19.11.2002 Az. AN 19 K 02.00270) und dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils Anfang des Jahres 2003 sind mehr als fünf Jahre vergangen.

2. Art. 8 EMRK sichert Ausländern nicht das Recht zu, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten und untersagt auch die Ausweisung oder Abschiebung nicht schlechthin. Ein Staat ist berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen zu regeln. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, haben die Vertragsstaaten die Befugnis, einen strafrechtlich verurteilten Ausländer auszuweisen. Ihre Entscheidungen auf diesem Gebiet müssen jedoch, sofern sie in ein nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Die bei der gerichtlichen Prüfung zu berücksichtigenden Belange sind im Einzelnen den Entscheidungen des Gerichtshofs zu entnehmen (vgl. vor allem EGMR vom 28.6.2007 <Kaya> a.a.O. RdNr. 51 ff.; vom 18.10.2006 <Üner> RdNr. 57 ff. DVBl 2007, 689 und vom 2.8.2001 <Boultif> RdNr. 40 InfAuslR 2001, 476).

Zu welchem Ergebnis diese Bewertung führen wird, ist derzeit offen.

b) Eine Unverhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers könnte sich jedoch vor allem im Zusammenhang mit dem Umstand ergeben, dass bei der Anwendung des Art. 8 EMRK von einer Trennung des Antragstellers vom Rest der Familie durch die Aufenthaltsbeendigung auszugehen ist. Mit seiner Überlegung, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die übrigen Familienmitglieder (nach den übereinstimmenden Äußerungen der Beteiligten haben die insoweit eingeleiteten Widerrufsverfahren zwischenzeitlich durch Aufhebung der Widerrufsbescheide geendet) begründe kein Verbot einer Rückkehr ins Heimatland, so dass diese - ebenso wie eine Trennung - freistehe, verkennt das Verwaltungsgericht die Rechtsstellung des Flüchtlings nach Art. 1 Abschnitt A des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Die Rückführung eines Ausländers mit dieser Rechtsstellung (hier: der Familienangehörigen des Antragstellers) hat gerade deshalb zu unterbleiben, weil ihm eine Rückkehr in sein Heimatland nicht zuzumuten ist (BVerwG vom 27.6.2006 BVerwGE 126, 192 zum Begriff der Unmöglichkeit der Ausreise aus rechtlichen Gründen im Sinne des § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG).

c) Eine sachgerechte Bewertung anhand der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Kriterien setzt eine weitere Aufklärung des Sachverhalts voraus.