VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 12.11.2008 - 1 A 392/06 - asyl.net: M14420
https://www.asyl.net/rsdb/M14420
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Rechtskraft, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Kurden, Reformen, Menschenrechtslage, Unterstützung, PKK, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Anti-Terrorismus-Gesetz, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) besteht, liegen nicht vor. [...]

Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgrund des rechtskräftigen Urteils vom 22.06.1999 wäre danach nur zulässig, wenn sich die im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung maßgebliche Rechtslage oder die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass die positive Feststellung eines Abschiebungsverbotes heute nicht mehr in Betracht käme. Dies wäre der Fall, wenn bei einer Rückkehr der Klägerin in ihren Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen wäre und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohen würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276 und vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Von diesen Maßstäben ausgehend erweist sich der Widerruf als rechtswidrig. Nach dem Sachstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht nicht fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin entfallen sind. Sie ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen auch weiterhin nicht hinreichend sicher davor, bei einer freiwilligen Rückkehr oder einer Abschiebung in die Türkei politischer Verfolgung und menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt zu sein.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament mehrere Gesetzespakete verabschiedet. Kernpunkte sind die Abschaffung der Todesstrafe, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Reform des nationalen Sicherheitsrates, die Zulassung anderer Sprachen als der türkischen in Rundfunk und Fernsehen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, eine Strafrechtsreform sowie Maßnahmen zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 7). Mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets hat die Türkei am 01.06.2005 die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007, S. 9).

Jedoch hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo nicht Schritt halten können. Die Reformen in der Türkei haben noch nicht zu einer so nachhaltig stabilisierten Verbesserung der Menschenrechtslage geführt, dass Personen, die, wie die Klägerin, im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, heute bei einer Rückkehr in die Türkei wegen ihrer früheren oder heutigen politischen Überzeugung keine Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Form von Folter oder sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung zu befürchten hätten.

So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Minderheitenschutz und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 25.05.2007 an Rechtsanwalt Stehn, S. 24 sowie vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 12). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei sind noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 25 ff.; Kaya, Gutachten vom 28.01.2007 an das VG Aachen, S. 9 f. und vom 26.09.2007 an das VG Sigmaringen, S. 7; Oberdiek, Gutachten vom 25.05.2007 an Rechtsanwalt Stehn, S. 25 ff., vom 15.08.2007 an das VG Sigmaringen, S. 10 ff. und vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 8 ff.; Aydin, Gutachten vom 20.09.2007 an das VG Sigmaringen, S. 10; amnesty international, Stellungnahme vom 15.11.2007 an das VG Sigmaringen, S. 5; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007 an das VG Sigmaringen, S. 7). [...]

Hinzu kommt, dass sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft hat. Seit der Aufkündigung der durch die PKK ausgerufenen Waffenruhe und der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes im Juni 2004 kam es vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla. Daneben verübt die PKK - auch unter Einsatz von Selbstmordattentätern - regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. [...] Der türkische Generalstab hat zudem mehrere Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, deren Betreten für Ortsfremde grundsätzlich verboten ist und einer strengen Kontrolle unterliegt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 16); am 11.09.2008 wurde die Zahl dieser Gebiete auf neun erhöht (Oberdiek, Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 4). Als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz (ATG) verschärft. [...]

Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Klägerin aufgrund des Verdachts, Kontakte zur PKK zu haben, bei einer Einreise in die Türkei im Rahmen der obligatorischen Personenkontrolle (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 33) einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. - jeweils an das VG Sigmaringen -: Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007, S. 10 ff.; Aydin, Gutachten vom 20.09.2007, S. 10; Kaya, Gutachten vom 26.09.2007, S. 7; amnesty international, Gutachten vom 15.11.2007, S. 5; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007, S. 7). Dabei folgt die Kammer nicht der Auffassung des Bundesamtes, eine Gefährdung der Klägerin sei deshalb zu verneinen, weil den türkischen Sicherheitskräften der Aufenthaltsort ihres Bruders mittlerweile bekannt sein dürfte und zudem nicht ersichtlich sei, dass sie an Informationen über den Bruder noch Interesse hätten. Das Bundesamt verkennt insoweit die Anforderungen an die Überprüfung der erneuten Gefährdung einer in der Vergangenheit bereits politisch verfolgten Person nach dem herabgestuften Prognosemaßstab. Die vom Einzelentscheider geäußerten bloßen Vermutungen sind in keiner Weise geeignet, eine hinreichende Verfolgungssicherheit zu begründen. Es besteht durchaus die ernstzunehmende Möglichkeit, dass die Klägerin aus Sicht des türkischen Staates wegen ihrer möglichen Kontakte zu ihrem Bruder als Auskunftsquelle nach wie vor wertvoll ist und im Hinblick auf vermutete Verbindungen zur PKK als mögliche Gegnerin des türkischen Staates angesehen wird. Es ist deshalb nicht hinreichend sicher auszuschließen, dass türkische Sicherheitskräfte im Rahmen eines Verhörs zu allen Mitteln greifen würden, um Informationen über die Exilszene bzw. die PKK, deren personelle Zusammensetzung und deren Methoden aus der Klägerin herauszupressen.

Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt in jüngerer Zeit kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Lagebericht vom 11.09.2008, S. 32). Für die Einschätzung der Gefährdung ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da davon auszugehen ist, dass sich unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen niemand befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde. Dies folgt insbesondere daraus, dass derartige Personen in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden sind oder ihnen zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden ist (OVG Lüneburg, Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, juris). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an das VG Sigmaringen, S. 13 f.).

Nach alledem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Rechtskraft des Urteils des VG Göttingen vom 22.06.1999 (1 A 1099/97) im Fall der Klägerin dem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht. Da die Klägerin weiterhin als politischer Flüchtling anerkannt ist, ist auch die im angefochtenen Bescheid enthaltene negative Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG aufzuheben. Dasselbe gilt angesichts des Eventualverhältnisses für den Widerruf zu § 53 AuslG sowie für die negative Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, so dass auch dieser Teil des Bescheides der Aufhebung unterliegt (vgl. BVerwG, Urteile vom 26.06.2002 - 1 C 17.01 - BVerwGE 116, 326 und vom 15.04.1997 - 9 C 19.96 -, BVerwGE 104, 260).

[...]