VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.11.2008 - 11 S 2235/08 - asyl.net: M14427
https://www.asyl.net/rsdb/M14427
Leitsatz:

Die Existenz der Bleiberechtsregelung oder der Altfallregelung nach § 104 a AufenthG führt nicht dazu, dass die Annahme eines Abschiebungsverbots gem. Art. 8 EMRK wegen Schutzes des Privatlebens gesperrt ist, wenn der Ausländer wegen Straftaten nicht in den Genuss der Bleibe- oder Altfallregelung kommt.

Schlagwörter: D (A), Duldung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Privatleben, EMRK, Aufenthaltsdauer, Integration, Kosovaren, Ashkali, Straftaten, Altfallregelung, Bleiberechtsregelung, Verhältnismäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; EMRK Art. 8; AufenthG § 104a
Auszüge:

[...]

Die fristgerecht erhobenen und begründeten sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechenden Beschwerden der Antragsteller sind zulässig und begründet. Die Antragsteller haben sowohl das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - der Antragsgegner beabsichtigt, sie abzuschieben -, als auch die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts geht der Senat bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die Antragsteller auch weiterhin zumindest einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG besitzen. Ihre Abschiebung ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil der damit einhergehende Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein dürfte. Ob den Antragstellern deshalb auch Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen erteilt werden müssen oder können und ob insoweit im Lichte aufenthaltsrechtlicher Schutzwirkungen aus Art. 8 EMRK trotz der rechtskräftigen Verurteilung auch von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden muss (vgl. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), kann im anhängigen Hauptsacheverfahren geklärt werden.

[...]

Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK dürfte zu bejahen sein, weil die hier asylverfahrensrechtlich begründeten Ausreisepflichten durchgesetzt, d.h. der Aufenthalt der Antragsteller in Deutschland durch Abschiebung beendet werden soll. Der Senat geht - wie inzwischen wohl auch die Antragsteller - davon aus, dass diesen wegen der begangenen Straftaten weder ein aus der Anordnung des Innenministeriums nach § 23 AufenthG vom 20.11.2006 (Az.: 4-1340/29; vgl. insbesondere Nr. 3.3) ermöglichtes Bleiberecht noch ein Aufenthaltsrecht nach der gesetzlichen Altfallregelung des § 104 a AufenthG zusteht, weswegen eine aufenthaltsrechtliche Legalisierung ihres Privatlebens im Bundesgebiet insoweit ausgeschlossen sein dürfte.

Gleichwohl ergibt sich aus der Existenz der Bleiberechts- und Altfallregelungen keine hier relevante Sperrwirkung. Vielmehr bleibt neben den dort geregelten generalisierten Fallkonstellationen Raum für hiervon losgelöste Einzelfallabwägungen, auch bei einer Entscheidung über das Vorliegen eines zwingenden Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Senatsbeschluss vom 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - a.a.O. m.w.N.). Etwas anderes wäre gerade im Falle von Straftätern mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. die Nachweise in BVerfG, Beschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 - NVwZ 2004, 852 = InfAuslR 2004, 280 = EuGRZ 2004, 317) nicht vereinbar.

Der Eingriff in das geschützte Privatleben der Antragsteller dürfte im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil unverhältnismäßig sein. Insoweit ist insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse der Antragsteller an der Aufrechterhaltung ihrer faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der "Verwurzelung" an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen (vgl. EGMR, Urteil vom 22.06.2006 - Nr. 59643/00 - "Kaftailova"). Weiter ist auf den Grad der "Entwurzelung" abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer "Handreichung des Staates" - schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.

Gemessen daran dürfte das Interesse der Antragsteller an der Aufrechterhaltung ihrer privaten Bindungen im Bundesgebiet das öffentliche Interesse insbesondere an Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern voraussichtlich überwiegen. Aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet, ihrer familiären Bindungen und ihrer Berufstätigkeit ist von einer weitreichenden "Verwurzelung" der Antragsteller in Deutschland auszugehen. Die Aufenthaltsdauer beträgt das Doppelte der in der gesetzlichen Altfallregelung des § 104 a AufenthG geforderten acht Jahre, ab denen eine hinreichende Integration bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen sozusagen gesetzlich vermutet wird. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass voraussichtlich alle vier Kinder der Antragsteller bereits ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet erlangt haben oder in Kürze erlangen werden. Zu den engen familiären Bindungen der Antragsteller zu ihren Kindern und Enkelkindern treten die sozialen Kontakte zu Deutschen hinzu, die durch die vorgelegten schriftlichen Erklärungen belegt werden. Die Antragsteller haben sich auch nicht erst mit Blick auf die Bleiberechts- bzw. Altfallregelung um Integration in den Arbeitsmarkt bemüht. Sie sind vielmehr bereits seit über vier Jahren erwerbstätig. Dass sie erst als Erwachsene eingewandert sind, steht angesichts dieser besonderen Umstände ihrer Verwurzelung nicht entgegen (vgl. EGMR, Urteil vom 31.01.2006 - Nr. 50252/99 - "Sezen" - InfAuslR 2006, 255). Insoweit unterscheiden sich die Umstände des vorliegenden Falles wesentlich von denen des Falles "Nnyanzi", in dem der EGMR bei einer abgelehnten Asylbewerberin aus Uganda nach zehnjährigem Aufenthalt in Großbritannien einen unverhältnismäßigen Eingriff durch die Abschiebung verneint hat (Urteil vom 08.04.2008 - Nr. 21878/06 -). Die Straftaten, die die nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG einen Ausschlussgrund begründende Grenze von 50 Tagessätzen nicht erheblich übersteigen und die zwischenzeitlich über sechs Jahre zurückliegen, fallen demgegenüber nicht erheblich ins Gewicht.

Nachdem die Antragsteller nach Aktenlage in den letzten 16 Jahren nicht mehr im Kosovo gewesen sind, dort keine nahen Verwandten haben, diese vielmehr alle in Deutschland leben, sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Kosovo seit ihrer Ausreise grundlegend gewandelt haben, sie dort einer wenig geachteten ethnischen Minderheit angehören, kann auch eine weitreichende "Entwurzelung" angenommen werden. Dass der Aufenthalt der Antragsteller nie legalisiert war, spricht nicht entscheidend gegen sie. Die Antragsteller haben nach Aktenlage in keiner Weise dazu beigetragen, dass es nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung kam. Grund für die laufende Verlängerung der Duldungen war, wie der Antragsgegner erläutert hat, im Wesentlichen das abwehrende Verhalten der UNMIK gegenüber der Rückführung von Minderheitsangehörigen und zuletzt die Entscheidung des Antragsgegners, den Fall im Hinblick auf die Bleiberechts- und Altfallregelung zurückzustellen. Vor diesem Hintergrund sowie der skizzierten konkreten Verwurzelungs- und Entwurzelungssituation erscheint der mit der Abschiebung verbundene Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK in der Gesamtabwägung derzeit unverhältnismäßig. Hierfür spricht zudem, dass die Antragsteller nach Abschiebung keine realistische Möglichkeit haben dürften, in absehbarer Zeit legal wieder in das Bundesgebiet einzureisen. Die für ihr Privatleben konstitutiven Beziehungen könnten bei einer Abschiebung mithin gegebenenfalls irreparabel beschädigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275 = NVwZ 2007, 946).

[...]