Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei; insbesondere Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen; hohe Gefährdung insbesondere für Funktionäre, aktive Mitglieder und Sympathisanten von kurdisch orientierten Parteien und Organisationen.
Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei; insbesondere Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen; hohe Gefährdung insbesondere für Funktionäre, aktive Mitglieder und Sympathisanten von kurdisch orientierten Parteien und Organisationen.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Anfechtungsklage, über die gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG die Berichterstatterin als Einzelrichterin zu befinden hatte, ist begründet, denn der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu Unrecht widerrufen. [...]
Da der Kläger vor seiner Ausreise Opfer massiver Folter und politischer Verfolgung geworden ist, wäre ein Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung nur zulässig, wenn eine erneute Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei ausgeschlossen wäre. Dies ist nach Auffassung der Kammer nicht der Fall, denn immer noch kommt es zu politischer Verfolgung in der Türkei, namentlich wenn der Verdacht einer Unterstützung der PKK besteht. Insbesondere kommt es zu extralegalen Festnahmen und Misshandlungen dabei, aber auch im offiziellen Polizeigewahrsam. Beispielhaft zeigt dies der Tod eines wegen Verteilens von Flugblättern festgenommenen Linksintellektuellen im Polizeigewahrsam in Istanbul nach Folter Anfang Oktober 2008 (vgl. Berichte in der Online-Ausgabe der taz vom 15. Oktober 2008 und im Tagesspiegel vom 13. Oktober 2008). Bislang verliefen Maßnahmen wegen solcher Todesfälle (auch im August 2007 war in Istanbul ein Mensch im Polizeigewahrsam zu Tode gekommen) gegen die beteiligten Polizeibeamten im Sande, soweit bekannt, wurde noch kein Mitglied der Sicherheitskräfte wegen Folter oder Tötung von Häftlingen belangt (vgl. ebenda). Solche Fälle kommen aber selbst in den Großstädten der Westtürkei noch viel zu häufig vor, als dass davon ausgegangen werden könnte, dass es sich lediglich um Exzesstaten handelt. Die Gefahr extralegaler Maßnahmen besteht auch unabhängig von anhängigen Strafverfahren. Gegen solche Maßnahmen kann sich der Kläger nicht wirksam schützen. Denn die Verfolgung erfolgt nicht nur im Rahmen offizieller Festnahmen, sondern häufig durch nicht näher identifizierbare Mitglieder staatlicher Sicherheitskräfte oder halboffizielle Geheimdienstagenten, deren Aktivitäten sich für die Betreffenden nicht nachweisen lassen. Es ist zu vermuten, dass diese Kräfte absichtlich so agieren, um damit die offiziellen gesetzlichen Schutzvorschriften zu umgehen, die zu Gunsten von Festgenommenen in den letzten Jahren in der Türkei eingeführt worden sind. Hierbei handelt es sich auch nicht um bloße Exzesstaten. Dazu sind diese Vorfälle zu weit verbreitet und werden von offiziellen staatlichen Stellen nicht verfolgt. Es sei nur beispielhaft auf den Fall Semdinli verwiesen, in dem nicht etwa konsequent gegen die beteiligten Straftäter aus den Reihen der Armee vorgegangen wird, sondern im Gegenteil den Strafverfolgern und dem zivilen Gericht Steine in den Weg gelegt werden. Dies wird im Einzelnen im Fortschrittsbericht der Europäischen Union vom 6. November 2007 beschrieben, in dem auch das Problem der extralegalen Festnahmen und Misshandlungen erwähnt wird. In dem Bericht wird moniert, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt, wie die Entlassung des Staatsanwalts zeige, der im Fall Semdinli ermittelt habe. Auch die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeigten, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. [...] Der Abnahmetrend von Folterfällen halte an, jedoch werde nach wie vor von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen. Zwar sei die Verwendung von Aussagen, die in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes zustande gekommen sind, und nicht vor einem Richter bestätigt wurden (d.h. bei denen häufig Misshandlung im Spiel war), nach der Strafprozessordnung verboten, jedoch habe der Kassationsgerichtshof entschieden, dass diese Vorschrift nicht auf zurückliegende Fälle Anwendung findet. So hätten in einigen Fällen niedrigere Instanzen sich auf solche Beweismittel gestützt, bei denen der Angeklagte geltend gemacht hatte, er sei bei ihrer Erlangung misshandelt worden. Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen bleibe ein problematischer Bereich. Es fehle an schnellen und unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Im Gegenteil würden solche Verfahren eher verschleppt, die Täter blieben daher straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbiete, ereigneten sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden. [...]
Einer hohen Gefährdung, der Folter und Misshandlung unterzogen zu werden, unterliegen dabei insbesondere Funktionäre, aktive Mitglieder und Sympathisanten kurdisch orientierter Parteien und Organisationen (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., S. 34 ff. m.w.N., insbesondere dem Gutachten von Kaya vom 25. Oktober 2004). Dabei mag es sein, dass für prominente Gefangene wie Metin Kaplan oder Abdullah Öcalan, die unter internationaler Beobachtung stehen, die Gefahr der Misshandlung und Folter relativ gering ist. Dies trifft aber auf relativ unbedeutende (vermeintliche) Mitglieder gewaltsam agierender Oppositionsgruppen oder von der Türkei als terroristisch angesehener Gruppen nicht gleichermaßen zu. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich in der Türkei verschiedene staatliche Kräfte gegenüberstehen, die nicht dieselben Interessen verfolgen. Während man der Regierung Erdogan zugestehen mag, dass sie bemüht ist, Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte zu unterbinden, stehen ihr nach wie vor starke Kräfte in Justiz- und Polizeiapparat entgegen, die kein Interesse an der Einhaltung der Reformen haben, die die Türkei der Europäischen Union näher bringen sollen, sondern im Gegenteil darauf abzielen, den Beitritt zu erschweren, weil sie den Verlust eigener Machtpositionen befürchten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005, S. 9 f., 27 f. und 30 ff.: Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 2). Diese Kräfte wenden nach wie vor die ihnen vertrauten rechtsstaatswidrigen Methoden an und gehen unnachsichtig gegen Personen wie den hiesigen Kläger vor, die aus ihrer Sicht den türkischen Staat gefährden oder dies in der Vergangenheit getan haben. Selbst international renommierte Schriftsteller wie Orhan Pamuk (aber auch zahlreiche weniger bekannte Autoren) werden mit strafrechtlichen Verfahren überzogen, z.B. weil sie sich in Interviews oder Publikationen kritisch über die Vergangenheit der Türkei (wie etwa den Völkermord an den Armeniern vor 90 Jahren) geäußert haben (vgl. dazu etwa die Berichte in der Süddeutschen Zeitung vom 15. September 2005 und 11. Oktober 2005).
Hinzu kommt im vorliegenden Verfahren, dass die Beklagte auch nicht ansatzweise dargelegt hat, was sich in der Türkei in den dreieinhalb Jahren seit der Rechtskraft des Urteils des VG Chemnitz vom 25. Februar 2005 im Hinblick auf die Situation des Klägers entscheidend verändert hat. Der Bescheid zitiert vornehmlich rechtsstaatliche Errungenschaften, die noch vor diesem Urteil eingetreten sind. Auf die spezielle Situation des Klägers geht er hingegen nicht ein. [...]