Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in den Irak wegen psychischer Erkrankung.
Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in den Irak wegen psychischer Erkrankung.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weshalb der Bescheid der Beklagten vom 11.06.2008 aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO).
Wie bei einem Asylfolgeantrag, der § 71 AsylVfG folgt, ist auch bei einem Antrag auf erneute Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zunächst zu prüfen, ob die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. [...]
Der Antrag ist auch nicht verspätet gestellt worden. Nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG muss das Wiederaufgreifen binnen einer Frist von drei Monaten beantragt werden. Insofern greift es zu kurz - wie die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid - lediglich auf die Erstellung des psychiatrischen Gutachtens des NLK ... vom 12.10.2006 abzustellen. Denn der Kläger hatte zunächst durch einen Antrag bei der Ausländerbehörde des Landkreises ... im Januar 2007 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG beantragt. Aufgrund des nach Auffassung des Landkreises ... zielstaatsbezogenen Vorbringens war er von dort auf eine Antragstellung bei der Beklagten verwiesen worden (Schriftsatz des früheren Bevollmächtigten des Klägers zur Antragstellung bei der Beklagten vom 05.03.2007 sowie Schreiben des Landkreises ... an die Beklagte vom 24.04.2008). Der Kläger hat mithin erst nach dem ausländerbehördlichen Hinweis, sein Vorbringen sei von einer anderen Behörde, der Beklagten, zu würdigen, im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG von dem Grund für das Aufgreifen Kenntnis erhalten. Obwohl anwaltlich vertreten, musste der Kläger nicht sowohl bei der Ausländerbehörde als auch bei der Beklagten Verwaltungsverfahren einleiten. Dies war ihm nicht zuzumuten.
Die Sachlage hat sich nachträglich zu Gunsten des Klägers geändert. Auch hat er neue Beweismittel vorgelegt, die eine ihm günstigere Entscheidung hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG herbeiführen. Deshalb ist das Verfahren nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwVfG wieder aufzugreifen. [...]
Aufgrund verschiedener ärztlicher Gutachten, Stellungnahmen und Berichte sowie nach dem in einer längeren mündlichen Verhandlung von dem Kläger persönlich gewonnenen Eindruck leidet dieser an einer schweren psychischen Erkrankung, die im Irak selbst bei Einnahme von Beruhigungsmitteln und Antidepresiva zu einer Suizidgefahr und einer Hilflosigkeit führen würde. Der Kläger wäre außerstande, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, wobei eine notwendige familiäre, pflegerische und ärztliche Betreuung im Irak nicht gesichert ist. [...]
Der Kläger ist aufgrund seiner Krankheit nicht nur darauf angewiesen, Tabletten einzunehmen. Diese mag er sich im Irak beschaffen können. Er benötigt darüber hinaus eine psychotherapeutische und psychiatrische Langzeitbehandlung seiner chronifizierten Erkrankung (Stellungnahme ... 23.10.2008). Ferner braucht er im täglichen Leben Unterstützung durch Dritte. Aus diesem Grund ist bei dem Amtsgericht ..., Vormundschaftsgericht, die Einrichtung einer Betreuung für behördliche Angelegenheiten beantragt worden (vgl erneut Stellungnahme Dr. ... vom 23.10.2008). Nach Auffassung des Gerichts ist darüber hinaus eine soziale Unterstützung für den Kläger von großer Bedeutung. Der Kläger braucht über die ärztliche Versorgung hinaus einen Gesprächspartner, um die Folgen seiner Depression und Angststörung zu lindern. Diese Funktion erfüllt - neben praktischer Lebenshilfe - derzeit der ambulante Betreuer ... Diesem Zweck dienen auch die Besuche. [...] Die durch ambulante Betreuung und in der ... hergestellten sozialen Kontakte sind nach dem Dafürhalten des Gerichts geeignet, die Suizidgefahr herabzusetzen.
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen wären im Irak derzeit weder eine hinreichende ärztliche, das heißt psychiatrische Behandlung noch ausreichende soziale Hilfestellungen gewährleistet. Infolgedessen würde die Suizidgefahr steigen. Zu diesem Ergebnis gelangt das Gericht ungeachtet der Frage, ob etwaige Folgeerlebnisse zu so genannten Flashbacks im Irak führen würden.
Jedenfalls stellt sich das Gesundheitssystem im Irak derzeit so dar, dass gerade für eine psychisch erkrankte Person, die nicht allein durch eine Medikamenteneinnahme zu therapieren ist, keine ausreichende Hilfe zur Verfügung steht. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06.10.2008 bleibt die medizinische Versorgung im Irak angespannt. In Bagdad arbeiteten vier von vierzehn Krankenhäusern nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen 1800 Primary Health Center seien entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängeln nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. UNHCR spricht in seiner Stellungnahme an das VG Köln vom 08.10.2007 von einem nahezu vollständigen Zusammenbruch des irakischen Gesundheitssystems (S. 13). Eingehend setzt sich auch das Institut für Nahost-Studien (GIGA, Uwe Brocks) in seiner Stellungnahme an das VG Düsseldorf vom 10.05.2007 mit dem Gesundheitssystem auseinander. Die gesundheitliche Versorgung in Krankenhäusern sei so schlecht, dass es nach Angaben der Iraq Medical Assosiation in 90 % der insgesamt 180 Krankenhäuser an einer grundlegenden Ausstattung fehle. Nach Schätzungen einer in Großbritannien ansässigen Agentur (Medact) vom März 2006 hätten von den 34.000 im Irak tätigen Ärzten ungefähr 18.000 Ärzte das Land seit 2003 verlassen. Diese Zahl sei allerdings nicht nachprüfbar. Ärzte allerdings als potentielle Entführungs- und Erpressungsopfer in das Blickfeld von Kriminellen. Hunderte von Kliniken, die sich in privater Hand befunden hätten und meistens ein kleines Spezialgebiet bearbeiteten, seien geschlossen worden. Eine unbekannte Anzahl dieser Privatmediziner arbeite im Verborgenen weiter. Kostenintensive Aufbauprogramme für den medizinischen Sektor kämen nur langsam voran. Der amerikanische Plan, 142 Erstversorgungs-Gesundheitszentren zu errichten, sei gescheitert. Die zur Verfügung gestellten 243 Millionen Dollar seien ausgegeben worden bzw. durch Korruption versandet. Aus den genannten Stellungnahmen und Berichten kann nur der Schluss gezogen werden, dass eine psychiatrische Behandlung und Therapie erst recht für den Kläger nicht realistisch durchführbar sind.
Nach Überzeugung des Gerichts besteht die Suizidgefahr nicht nur in Deutschland aufgrund einer Angst vor Abschiebung in den Irak. Die Gefahr würde aufgrund der von Angst durchdrungenen Psyche des Klägers im Irak fortbestehen. Deshalb genügt nach den ärztlichen Feststellungen und dem Eindruck des Gerichts auch nicht eine bloße Rückkehr zu den - womöglich schon alten - Eltern, welche der Kläger nach der Einreise 2001 als in ... wohnend erwähnt hat (S. 3 des Anhörungsprotokolls vom 26.09.2001). Vielmehr benötigt der Kläger professionelle Hilfe, die derzeit im Heimatland nicht sichergestellt werden kann.
Der Kläger ist - wie ausgeführt - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt. In seinem Fall liegt keine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor. Eine solche Gefahr kann sich auch aus dem schlechten Gesundheitssystem in einem Herkunftsland eines Asylbewerbers ergeben. Der Fall des Klägers ist jedoch durch Besonderheiten geprägt. Er leidet an einer besonders schweren psychischen Erkrankung und fällt nicht unter die Gruppe derjenigen Flüchtlinge aus dem Irak, die aufgrund nachdrücklicher Erlebnisse im Krieg bzw. Bürgerkrieg an Depressionen leiden und auf Tabletten angewiesen sind. Der Einzelfall des Klägers reicht darüber hinaus. Aus diesem Grund findet die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts keine Anwendung, wonach ein Durchbrechen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dann nicht in Betracht kommt, wenn durch einen Erlass die Abschiebung des Asylbewerbers ausgeschlossen ist und ihm über eine gesetzliche Duldung nach § 60 a AufenthG ein entsprechender und gleichwertiger Abschiebungsschutz zu teil wird (BVerwG, Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114. 379; Nds. OVG, Urt. v. 19.03.2007 - 9 LB 373/06 -, Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG).
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