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VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 14.11.2008 - 12 K 3140/08.A - asyl.net: M14450
https://www.asyl.net/rsdb/M14450
Leitsatz:
Schlagwörter: Bosnien und Herzegowina, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Kinder, fachärztliche Stellungnahme, Mutter, Eltern, Situation bei Rückkehr, Retraumatisierung, Entwicklungsstörung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...] Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs.7 Satz l AufenthG. [...]

Nach der Überzeugung der Kammer leidet der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung; die im Falle einer Rückkehr des Klägers in seinen Heimatstaat zu einer konkreten, lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen würde. Zu dieser Bewertung gelangt die Kammer aufgrund der Stellungnahme des psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge vom 14. Mai 2008 sowie der Ergänzung zur Stellungnahme vom 28. Oktober 2008. In diesen Stellungnahmen ist zunächst nachvollziehbar dargelegt, dass der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, weil er mitansehen musste, wie seine Mutter Opfer schwerer körperlicher Gewalt geworden ist. Zwar ist - wie in der Stellungnahme des Zentrums dargelegt - die Diagnose einer frühkindlichen Traumatisierung äußerst schwierig, weil das Zentrum beim Kläger selbst wegen des kindlichen Alters nicht eine Exploration traumatischer Ereignisse durchgeführt hat, sondern die Angaben der Mutter zugrunde gelegt hat, wonach der Kläger bei Gewalterlebnissen der Mutter - die in der Person der Mutter zur Bejahung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt geführt haben - dabei gewesen sei und diese mitangesehen habe. Dies rechtfertigt aber keine durchgreifenden Bedenken an der Richtigkeit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung. Die beim Kläger zu beobachtenden Symptome wie anklammerndes und auffällig aggressives Verhalten, ausgeprägte Angst vor Dunkelheit oder Alleinsein, Verlust von schon erworbenen Fähigkeiten und regressives Verhalten, Verlust einer bereits erworbenen Sprachfähigkeit und Behinderung der Sprachentwicklung sowie Schlafschwierigkeiten lassen sich nach der plausiblen sachverständigen Bewertung im Einzelfall des Klägers nur als Folgen einer frühkindlichen, die normale Entwicklung unterbrechenden Traumatisierung verstehen, zumal die körperlich-neurologische Untersuchung sowie die EEG- und Laborbefunde keinen Hinweis auf eine körperliche Ursache der Entwicklungsverzögerung geliefert haben.

Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine konkrete erhebliche Gefahr für Leib oder Leben droht. Eine solche ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil angesichts der Tatsache, dass für die Mutter des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht, derzeit und auf absehbare Zeit eine erzwungene Rückkehr des Klägers in sein Heimatland nicht bevorsteht. Die Frage, ob dem Kläger angesichts des gesicherten Aufenthalts seiner Mutter unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie ein (inlandsbezogenes) Abschiebungsverbot zusteht, ist von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen und ist für die Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt ohne Bedeutung. Soweit die Beklagte auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23. August 2006 - 1 B 60/06 - verweist, vermag das Gericht die Bedeutung dieser Entscheidung für den vorliegenden Fall, in dem es um die Frage des Vorliegens eines Abschiebungsverbots wegen individueller Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geht, nicht zu erkennen.

Im Falle einer Rückkehr des fünf Jahre alten posttraumatisierten Klägers nach Bosnien-Herzegowina ist ausweislich der nachvollziehbaren Ausführungen des Zentrums davon auszugehen, dass bei dem Kläger Reaktualisierungsprozesse mit extremen Angst- und Hilflosigkeitsgefühlen ausgelöst werden, die angesichts des kindlichen Alters des Klägers für diesen nicht erklärbar sind und von ihm nicht verarbeitet werden können, wodurch die Hilflosigkeit noch weiter gesteigert wird. Diese Reaktualisierungsprozesse führen zu einer akuten Stressreaktion, die in einem so jungen Alter weitreichende Folgen auf die Hirnentwicklung hat. Auftretende psychophysiologische Veränderungen und Destabilisierungsprozesse können im Gehirn bei Kindern irreversible Schädigungen bis hin zur Schädigung von Nervenzellen verursachen, was zu der Bejahung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kläger führt.

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