VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.07.2008 - 6 K 4927/07.A - asyl.net: M14451
https://www.asyl.net/rsdb/M14451
Leitsatz:

Unterlässt das zum Vormund bestellte Jugendamt die Mitteilung einer Adressänderung an das Bundesamt, muss der Minderjährige die Zustellung nicht gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG gegen sich gelten lassen; Abschiebungsverbot eines alleinstehenden Jugendlichen aus Äthiopien.

 

Schlagwörter: Äthiopien, Verfahrensrecht, Zustellung, Ablehnungsbescheid, Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Vormund, Jugendamt, Mitwirkungspflichten, Zustellungsfiktion, Anschrift, Mitteilung, Bundesamt, Zurechnung, Umverteilung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Lebensunterhalt, Krankheit, psychische Erkrankung, Situation bei Rückkehr, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AsylVfG § 10 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Unterlässt das zum Vormund bestellte Jugendamt die Mitteilung einer Adressänderung an das Bundesamt, muss der Minderjährige die Zustellung nicht gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG gegen sich gelten lassen; Abschiebungsverbot eines alleinstehenden Jugendlichen aus Äthiopien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage im übrigen ist zulässig. Der Kläger muss die Zustellung des Bescheides vom 30. August 2007 unter der Anschrift "Am I1 2A, X" nicht gegen sich gelten lassen.

Denn die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 AsylVfG liegen hier nicht vor. Die Zustellung des Bescheides beruht nicht auf einer fehlenden Mitwirkungshandlung des Klägers oder einer Pflichtverletzung. Der Kläger stand zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides bereits unter Vormundschaft, so dass das zuständige Jugendamt die Meldung unterlassen hat und nicht der Kläger. Auf solche Fälle ist § 10 AsylVfG nicht anzuwenden (vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Januar 2006 – 25 K 6796/04.A -, juris).

Zudem war dem Bundesamt aufgrund der Mitteilung der Bezirksregierung vom 15. Mai 2007 bekannt, dass eine Umverteilung nach O. stattgefunden hatte und eine Zuweisungsentscheidung an das Jugendamt in I ergangen war.

Hinsichtlich der Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist die Klage begründet. [...]

Der Kläger ist als alleinstehender Jugendlicher in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat glaubhaft angegeben, dass seine Mutter bei der Geburt verstorben sei und sein Vater nach der Inhaftierung verschwunden ist und er keine Angehörige mehr in Äthiopien hat.

Damit ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger über keine finanziellen Mittel verfügt, um seinen Lebensunterhalt in Äthiopien zu sichern. Eine staatliche Unterstützung oder staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer gibt es nicht (so Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2007, IV.2).

Der Kläger, der noch nicht über eine abgeschossene Schul- oder Berufsausbildung verfügt, ist auch nicht in der Lage, sich in Äthiopien eine eigenständige wirtschaftliche Existenz aufzubauen.

Dazu kommt, dass der Kläger sich in einer psychisch sehr labilen Verfassung befindet. [...]

Ungeachtet der Einordnung der psychischen Probleme des Klägers als Posttraumatische Belastungsstörung oder als sonstige psychische Problematik, ist davon auszugehen, dass der alleinstehende, noch jugendlich wirkende Kläger, wenn er aus dem in Deutschland entstandenen sozialen Umfeld und der Betreuung durch Psychologen herausgerissen wird, einen Zusammenbruch erleiden wird. Er lebt derzeit nicht allein, sondern in einer betreuten Wohngruppe.

Im Falle des Abbruchs des stabilisierenden Umfeldes durch Betreuer und Psychologen in Deutschland und dem von den behandelnden Ärzten prognostizierten Zusammenbruch bei einer Unterbrechung der Behandlung, wird ihm keine Hilfe in Äthiopien geleistet werden können, da Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Welt gehört und die medizinische Versorgung nur unzureichend ist, bzw. falls sie vorhanden ist, für einen mittellosen Rückkehrer nicht zu finanzieren ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2007, IV.1: "Bei Rückkehrern aus dem Ausland kann nicht davon ausgegangen werden, dass Krankenkosten von einer Krankenversicherung übernommen werden. .. Allerdings kommen in den Genuss derartiger Freibehandlungsscheine nur die Ärmsten der Armen. Personen, die aus dem Ausland zurückkehren, fallen üblicherweise nicht in diese Kategorie.").

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass dem Kläger eine fachärztliche kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung zur Verfügung steht, da diese – falls überhaupt vorhanden – für den mittellosen Kläger nicht finanzierbar ist. Zudem besteht das Behandlungserfordernis nach Auskunft von Dr. E. unmittelbar. Es ist nicht ersichtlich, wie eine umgehende Weiterbehandlung in Äthiopien gewährleistet werden könnte.

[...]