VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 10.07.2008 - 4 A 1710/07 - asyl.net: M14457
https://www.asyl.net/rsdb/M14457
Leitsatz:

Keine erhebliche Änderung der Sachlage seit 1998, die den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Yeziden aus Syrien entgegen der Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils rechtfertigen würde.

 

Schlagwörter: Syrien, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Änderung der Sachlage, Rechtskraft, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil, Lagebericht, Auswärtiges Amt, Gruppenverfolgung, Hassake
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

Keine erhebliche Änderung der Sachlage seit 1998, die den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Yeziden aus Syrien entgegen der Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils rechtfertigen würde.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 30. Mai 2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Hiervon ausgehend steht dem Widerruf die Rechtskraft des Urteils vom 29. April 1998 - 11 A 2757/97 - entgegen. Danach steht zwischen den Beteiligen rechtskräftig fest, dass die Klägerin nach der damals maßgeblichen Sach- und Rechtslage einen Anspruch auf die Flüchtlingsanerkennung hatte. Dies gilt im Übrigen unabhängig davon, ob in dem Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt wurde.

Maßgeblich ist ein Vergleich zwischen der Lage im Zeitpunkt des Erlasses des Urteils vom 29. April 1998 - 11 A 2757/97 - und der aktuellen Situation (§ 77 Abs. 1 AsylVfG). Nach der Begründung zu § 73 Abs. 2 a AsylVfG sollten die Überprüfungen generell an Hand der aktuellen Länderberichte des Auswärtigen Amtes erfolgen. Ergebe sich hieraus eine neue Situation, sei das Bundesamt gehalten, die entsprechenden Anerkennungsentscheidungen auf der Grundlage der neuen Länderberichte erneut zu überprüfen (BT-Drucksache 15/420 (112) zu § 73 Abs. 2 a). Davon ausgehend ist bei einem Vergleich der Lageberichte vom 16. Januar 1998 und 5. Mai 2008 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse in Syrien insbesondere für die Gruppe der Yeziden nicht ersichtlich. In dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 1998 ist ausgeführt:

"In Syrien leben unbestätigten Angaben zufolge 50.000 Jesiden. Ihre Hauptsiedlungsgebiete sind in Nordostsyrien entlang der türkischen Grenze. Wie alle anderen religiösen Minderheiten werden auch die Jesiden nicht vom syrischen Staat verfolgt. Im Gegenteil versucht das Alawitenregime auch hier Nachteile auszugleichen.

So ist in Syrien die Regelung des Ehe- und Familienrechts beispielsweise den Verwaltungen der einzelnen Religionsgemeinschaften überlassen. Staatliche Stellen verlangen daher für ihre Rechtsakte die Vorlage kirchenrechtlicher Dokumente. So nehmen die staatlichen Standesämter z.B. die Registrierung einer islamischen Ehe nur gegen Vorlage der von der geistlichen islamischen Verwaltung erstellten Heiratsdokumente vor. Die Jesiden verfügen nun aus vielerlei Gründen nicht wie die anderen Religionsgemeinschaften über eine eigene kirchliche Verwaltung, die entsprechende Dokumente ausstellen könnte. Um den syrischen Bürgern jesidischen Glaubens dennoch die mit erheblichen Vorteilen verbundene zivilrechtliche Registrierung geschlossener Ehen zu ermöglichen, verzichtet der Staat bei dieser Religionsgemeinschaft auf die Vorlage derartiger Dokumente. Statt dessen können syrische Bürger jesidischen Glaubens rein zivilrechtlich heiraten und diese Trauung anschließend registrieren lassen.

Viele syrische Jesiden weisen jedoch sicher zu Recht darauf hin, dass ihre wirtschaftliche Situation sehr schlecht sei. Entsprechend hoch ist der Auswanderungsdruck in dieser Religionsgemeinschaft. Zudem gibt es in vielen westlichen Ländern bereits funktionierende jesidische Glaubensgemeinschaften, die bereit sind, ihren Glaubensbrüdern zumindest in der ersten Zeit im fremden Land beizustehen.

Im einen oder anderen Fall mag zu den wirtschaftlichen Auswanderungsmotiven eine hier und dort anzutreffende gesellschaftliche Benachteiligung des jesidischen Glaubens hinzukommen. Sowohl in islamischen als auch christlichen Kreisen kursiert nach wie vor der Vorwurf, dass die Jesiden "Teufelsanbeter" seien. Auch wenn der straff geführte Einheitsstaat Syrien keinerlei nicht-staatliche Gewaltausübung toleriert, dürfte er doch weder willens noch in der Lage sein, aus dem genannten Vorwurf resultierende gesellschaftliche Benachteiligungen im alltäglichen Leben zu verhindern."

Mit Ausnahme der genannten Zahlen der Yeziden in Syrien, die im Lagebericht vom 5. Mai 2008 mit 4.000 bis 12.000 Personen angegeben werden, wird die Situation der Yeziden nahezu wortgleich im aktuellen Lagebericht beschrieben, wie im zuvor zitierten Lagebericht, der für den Zeitpunkt des die Anerkennung bestätigenden Urteils als maßgeblich angesehen werden kann. Aktuelle Erkenntnismittel, wonach die Lage der Yeziden in Syrien sich im Vergleich zum Jahr 1997 wesentlich geändert hat, sind nicht ersichtlich und werden in dem angefochtenen Bescheid auch nicht benannt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht in einem Bericht von Mai 2004 vielmehr weiterhin die Gefahr einer regionalen mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden im Distrikt Hassake auch aufgrund der geringeren Anzahl der Yeziden und weiterhin bestehenden religionsbezogenen Beeinträchtigungen als gegeben an.

Soweit in dem Bescheid vom 30. Mai 2007 auf Rechtsprechung Bezug genommen wird, wonach von einer Gruppenverfolgung der Yeziden in Syrien nicht auszugehen ist (aktuell vgl. z.B. OVG Sachsen Anhalt, Urteil vom 30. Januar 2008 - 3 L 75/06 - juris; Nds. OVG, Urteile v. 27. März 2001 - 2 L 5117/97 u. 2 L 2505/98; Beschluss v. 07. Juni 2007 - 2 LA 416/07), entspricht dieses zwar nicht der im April 1998 maßgeblichen Rechtsprechung des Niedersächsischen OVG, dass seinerzeit Anhaltspunkte für eine regionale Gruppenverfolgung der Yeziden im Distrikt Hassake sah (Nds. OVG, Urteil vom 22. Februar 1995 - 2 L 4399/93; Urteil vom 05. Februar 1997 - 2 L 3670/96). Allerdings ist eine geänderte Bewertung eines im Wesentlichen gleichen Sachverhalts durch die Gerichte kein nach § 73 AsylVfG maßgeblicher Widerrufsgrund. Das gilt selbst dann, wenn diese auf neuen Erkenntnismitteln beruht (BVerwG, Urteil vom 29. September 2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112 S. 80 = NVwZ 2001 S. 335; Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 - BVerwGE 124 S. 276). Beruht eine Asylanerkennung auf einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil, hindert die Rechtskraft dieser Entscheidung bei unveränderter Sachlage den Widerruf der Anerkennung durch das Bundesamt nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet allerdings, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 - NVwZ 2002 S. 345). Daran fehlt es hier jedoch.