LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09.05.2008 - L 11 AY 57/08 ER - asyl.net: M14461
https://www.asyl.net/rsdb/M14461
Leitsatz:

Zeiten des Bezugs von Leistungen nach SGB II sind auf die 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzurechnen.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, 48-Monats-Frist, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Aufenthaltsdauer
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Zeiten des Bezugs von Leistungen nach SGB II sind auf die 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzurechnen.

(Leitsatz der Redaktion)

Der Beschluss des SG Hannover vom 27. März 2008 ist aufzuheben, weil die Antragstellerin einen Anspruch darauf, dass ihr im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG zugesprochen werden, glaubhaft gemacht hat und auch der erforderliche Anordnungsgrund vorliegt.

Im Streit steht, ob die Antragstellerin die seit 28. August 2007 gültige zeitliche Voraussetzung des 48-monatigen Bezugs von Leistungen "nach § 3 AsylbLG" erfüllt. Zwar hat die Antragstellerin noch nicht über einen Zeitraum von 48 Monaten Leistungen gemäß "§ 3 AsylbLG" bezogen, doch erfüllt sie unter Anrechnung des vorangegangenen Bezugs von Leistungen nach dem § 2 AsylbLG aller Voraussicht nach diese zeitlichen Voraussetzungen.

Der Anrechnung von Leistungen nach dem SGB II und nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auf die 48-monatige "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG steht - entgegen der Ansicht des SG Hannover und der Antragsgegnerin - weder der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG entgegen noch "konterkariert" die Anrechnung dieser Zeiten entgegen der Auffassung des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport den Zweck der Vorschrift. § 2 Abs. 1 AsylbLG - auch in der Vorläufervorschrift - ist einer erweiternden Auslegung zugänglich. Schon vor der hier maßgeblichen Gesetzesänderung stand im Streit, ob der Bezug von anderen Sozialleistungen wie etwa nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), nach dem SGB II oder dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf die "Wartefrist" i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. anzurechnen war (vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. Juni 2007, L 11 AY 84/06 ER; vom 19. Juni 2007, L 11 AY 43/06 ER beide zu den Aufenthaltsberechtigten gem. § 25 Abs. 5 AufenthG, die erstmals aufgrund der zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Änderung von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG in den Kreis der Leistungsberechtigten aufgenommen worden sind und die bis dahin Leistungen nach BSHG, SGB XII bzw. SGB II bezogen hatten; vgl. Hachmann/Hohm, NVwZ 2008, 33, 35 m.w.N. für die obergerichtliche Rspr zu § 2 AsylbLG a.F.; vgl. Fasselt in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Auflage § 2 AsylbLG a.F. Rdnr 2 m.w.N. für die Lit.). Es wäre dem Gesetzgeber unbenommen gewesen, durch einen klarstellenden Zusatz in § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. wie etwa "nur" oder "ausschließlich" vor "Leistungen nach § 3 erhalten haben" deutlich zu signalisieren, dass eben nur solche Leistungen "nach § 3" zu berücksichtigen sind. Da eine solche Eindeutigkeit dem Gesetzestext fehlt, ist der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden einer erweiternden Auslegung (sog. teleologische Extension) zugänglich. Denn die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz (Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 97 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) bedeutet nicht etwa die Bindung an den Buchstaben des Gesetzes mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern vielmehr das Gebundensein an den Sinn und Zweck der Vorschrift, der mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden zu ermitteln ist (vgl. BVerfGE 35, 263, 279).

In der hier nur summarisch vorzunehmenden Prüfung erweist sich die Anrechnung des Bezugs von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (und auch nach dem BSHG bzw. SGB XII) als eine dem Zweck des Gesetzes entsprechende Auslegung, ohne der Norm einen entgegen gesetzten Sinn zu verleihen, der mit dem gesetzgeberischen Ziel nicht mehr in Einklang zu bringen wäre. Denn dann wäre zweifelsohne die Grenze einer zulässigen Auslegung überschritten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 1997, Az.: 1 BvL 11/96, NJW 1997, 773). Eine solche Überschreitung liegt nach summarischer Überprüfung offensichtlich nicht vor.

Auch unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien ergibt sich kein der erweiternden Auslegung entgegenstehender oder mit ihr unvereinbarer Zweck. Die Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG rechtfertigen die Anhebung auf 48 Monate mit einer Angleichung von Regelungen im AufenthG (§ 104a) und einer Änderung der Beschäftigungsverfahrensordnung (§ 10), die nach Ablauf von 4 Jahren einen gleichrangigen Arbeitsmarktzugang für Geduldete gewähren. Damit soll eine "einheitliche Stufung nach vier Jahren eingeführt" werden (vgl. BT- Drs. 16/5065, S. 232 zu § 2). Für den Zeitpunkt der Gewährung von Leistungen auf Sozialhilfeniveau wird auf den Grad der zeitlichen Verfestigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik abgestellt. Nach einem Voraufenthalt von 4 Jahren sei davon auszugehen, dass eine Aufenthaltsperspektive entstanden sei, die es gebiete, Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine bessere soziale Integration gerichtet seien (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 232 zu § 2).

Die Gesetzesmaterialien legen es nahe, in erster Linie an die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik von 48 Monaten anzuknüpfen, um den erhöhten Integrationsbedarf auf Sozialhilfeniveau für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG jetzt erstmals anzuerkennen. Nach Ablauf dieses Zeitraumes soll die Existenz auf dem Niveau reduzierter Leistungen gem. § 3 AsylbLG regelmäßig nicht mehr zumutbar sein. Die Anrechnung des Bezugs von Sozialleistungen während des Zeitraumes von 48 Monaten, die den Lebensbedarf auf Sozialhilfeniveau sicherstellen, steht dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Regelungszweck gerade nicht entgegen.

Der Senat interpretiert die zeitlichen Voraussetzungen i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht als reine "Wartefrist", sondern hat darauf abgestellt, dass die Leistungsberechtigten des AsylbLG während des Aufenthalts in der Bundesrepublik auch tatsächlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bezogen haben. Deshalb hat der Senat eine Anrechnung von Aufenthaltszeiten auf die "Wartefrist" von § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. bisher nur dann anerkannt, wenn gleichartige Sozialleistungen, wie etwa nach dem BSHG, dem SGB II oder SGB XII tatsächlich bezogen worden sind (vgl. die oben zitierten Senatsbeschlüsse zu § 2 Abs. 1 AsylblG a.F.). Hingegen ist allein die tatsächliche Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik für nicht ausreichend erachtet worden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 9. Mai 2007, Az: L 11 AY 58/06 ER und vom 27. März 2007, Az: L 11 B 17/07 AY). Die Gleichartigkeit der von der Antragstellerin bezogenen Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (gleiches gilt für Leistungen nach dem SGB II und Leistungen nach dem BSHG und SGB XII) beruht darauf, dass diese Sozialleistungen den für das Existenzminimum notwendigen Lebensbedarf im Rahmen eines beitragsunabhängigen, steuerfinanzierten Fürsorgesystems sicherstellen. Leistungen nach § 3 AsylbIG dienen demselben Zweck, wenngleich das Existenzminimum noch auf einem unterhalb der Sozialhilfe liegenden Niveau sichergestellt wird (sog. Grundleistungen). Bei Außerachtlassen der zulässigen Anrechnung gleichartiger Sozialleistungen müsste die Antragstellerin noch über einen erheblichen Zeitraum Leistungen nach § 3 AsylbLG beziehen. Ohne Anrechnung gleichartiger Sozialleistungen käme die Antragstellerin erst weit nach Ablauf einer Aufenthaltsdauer von 48 Monaten in den Genuss höherwertiger Leistungen auf Sozialhilfeniveau. Eine solche Intention steht den erwähnten Gesetzesmaterialien entgegen.