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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 24.07.2008 - 23 V 39.08 - asyl.net: M14478
https://www.asyl.net/rsdb/M14478
Leitsatz:

Das Freizügigkeitsgesetz/EU ist auch für die Visumserteilung an Familienangehörige von Unionsbürgern anwendbar, so dass der Ehegattennachzug keine Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt; Einzelfall einer einstweiligen Anordnung auf Visumserteilung wegen besonderer Hilfsbedürftigkeit des Ehegatten.

 

Schlagwörter: D (A), Visum, Ehegattennachzug, Unionsbürger, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Vorwegnahme der Hautsache, Zumutbarkeit, psychische Erkrankung, Krankheit, Anpassungsstörung, Sprachkenntnisse, Freizügigkeitsgesetz/EU, Anwendbarkeit, Diskriminierungsverbot, Gleichheitsgrundsatz
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; FreizügG/EU § 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 1; AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; FreizügG/EU § 11
Auszüge:

Das Freizügigkeitsgesetz/EU ist auch für die Visumserteilung an Familienangehörige von Unionsbürgern anwendbar, so dass der Ehegattennachzug keine Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt; Einzelfall einer einstweiligen Anordnung auf Visumserteilung wegen besonderer Hilfsbedürftigkeit des Ehegatten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind gegeben. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint. Zwar geht die von den Antragstellern begehrte Erteilung eines Visums zum Familiennachzug über eine einstweilige Regelung hinaus und führt zu einer Vorwegnahme der Hauptsache. Auch wenn dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren kann, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte, ist vorliegend die Vorwegnahme der Hauptsache zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ausnahmsweise möglich, weil ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die Antragsteller in der Hauptsache obsiegen (Anordnungsanspruch) und weil zu besorgen ist, dass den Antragstellern durch die Verweisung auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren ein unzumutbarer schwerer Nachteil entsteht (Anordnungsgrund).

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin haben die Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihnen ein unzumutbarer schwerer Nachteil droht, wenn ihnen nicht sofort ein Visum zum Familiennachzug ausgestellt wird. Zwar kann allein die befürchtete Dauer eines Gerichtsverfahrens grundsätzlich unzumutbare Nachteile in diesem Sinn nicht vermitteln. Ein Ausländer, der einen Visumsanspruch - hier nach §§ 2, 3 FreizügG - geltend macht, dessen Berechtigung von der Auslandsvertretung in Abrede gestellt wird, muss sich darauf einstellen, dass die erforderlich werdende gerichtliche Überprüfung, die grundsätzlich in einem Klageverfahren stattzufinden hat, einige Zeit in Anspruch nehmen kann und vor ihrem Abschluss eine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht möglich ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass in Visaverfahren die Entscheidungen in der Regel binnen eines Zeitraumes von einem Jahr seit Klageeingang ergehen.

Hier liegen jedoch besondere Umstände vor, die für die Antragsteller ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache als unzumutbar erscheinen lassen. Die Antragstellerin litt, wie durch Vorlage des Berichtes der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 30. Mai 2008 glaubhaft gemacht, unter einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion und unternahm am 27. Mai 2008 einen Suizidversuch. Auch wenn, worauf die Antragsgegnerin zutreffend hinweist, ausweislich des genannten Berichts im Zeitpunkt der Aufnahme am 29. Mai 2008 keine Selbst- oder Fremdgefährdung (mehr) bestand, ist zu befürchten, dass die Antragstellerin sich erneut aufgrund von depressiven Stimmungen selbst gefährdet, zumal sie angegeben hat, Auslöser sei u.a. gewesen, dass sie einjährigen Hochzeitstag und einige Zeit später Geburtstag gehabt habe, die sie jeweils ohne den Ehemann habe verbringen müssen, und nunmehr der Geburtstag des Antragstellers zu 1) in Kürze ansteht.

Die Antragsteller haben auch einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Nachzug des Antragstellers zu 1) zu seiner Ehefrau, der Antragstellerin zu 2), mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

Der Anspruch des Antragstellers zu 1) als Ehegatte einer Unionsbürgerin auf Gestattung des Ehegattennachzugs beurteilt sich dabei nach § 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 2 Abs. 2 Nr.1 FreizügG/EU (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.03.2007, - 3 B 9.06). Für den Nachzug bedarf es eines Visums, weil der Antragsteller selbst nicht Unionsbürger ist (§ 2 Abs. 4 S. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 4 Abs. 1, § 6 AufenthG), jedoch mit einer in Deutschland lebenden und als Angestellte arbeitenden britischen Staatsangehörigen verheiratet ist und seine Einreise zu ihr begehrt. Danach haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist dieses Gesetz und nicht allein das AufenthG auf das Begehren der Antragsteller anzuwenden. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der genannten Vorschrift und der des § 1 FreizügG, die den Anwendungsbereich des Gesetzes regelt, und zwar für die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und deren Familienangehörigen. Wie schon der Wortlaut nahe legt, ist unter Einreise nicht nur die aus einem Mitgliedstaat der EU zu verstehen, sondern auch die aus einem Drittstaat (Epe in GK-AufenthG, § 1 FreizügG, Rdnr. 3, § 2 FreizügG, Rdnr. 136). Sinn und Zweck des Gesetzes, die Freizügigkeit von Unionsbürgern innerhalb des europäischen Binnenmarktes zu gewährleisten, gebieten keine einschränkende Auslegung des Wortlauts, wie die Antragsgegnerin meint, weil entgegen ihrer Ansicht auch die Ersteinreise von Drittstaatlern zu einem Unionsbürger unter den Anwendungsbereich von Art 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft fällt (EuGH, Urteile vom 9. 1. 2007, NVwZ 2007, S. 432ff. und 11.12.2007, InfAuslR 2008, S. 114 ff.). Dass die Richtlinie dem Familienangehörigen kein originäres Freizügigkeitsrecht gewährt, sondern der Nachzugsanspruch dem Wanderarbeitnehmer dient, zu dessen Familie der Drittstaatsangehörige gehört, ist insofern ohne Belang (EuGH, Urteil vom 11. 12. 2007 - C-291/05 -, InfAuslR 2008 S. 114 ff.), zumal vorliegend auch die in Deutschland lebende Ehefrau, deren Freizügigkeit die Vorschriften der Richtlinie gewährleisten sollen, einen Anspruch auf Nachzug ihres Ehemannes geltend macht. Für eine einschränkende Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes, mit dem u.a. die genannten Vorschriften der Europäischen Union umgesetzt wurden, besteht daher kein Anlass.

Auch der Gesichtspunkt, dass der Familiennachzug zu Deutschen Einschränkungen unterliegt, die für den Nachzug zu anderen in Deutschland lebenden Unionsbürgern nicht gelten, rechtfertigt keine andere Auslegung. Weder das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 6 Abs. 1, Art. 39, 48 Abs. 2 EGV = Art. 39 Abs. 2 EG) noch der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 GG) gebieten, drittstaatsangehörige Familienangehörige deutscher Staatsangehöriger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft keinen Gebrauch gemacht haben, mit drittstaatsangehörigen Familienangehörigen freizügigkeitsberechtigter EU-Ausländer aufenthaltsrechtlich gleichzustellen (VGH BW, Beschluss vom 7.8.1995 NJW 1996, S.72).

Der Antragsteller zu 1) hat als Familienangehöriger (vgl. § 3 Nr. 2 Nr. 1 FreizügG) der nach § 2 Nr. 2 Nr. 1 FreizügG freizügigkeitsberechtigten Antragstellerin zu 2) nach § 3 Nr. 1 S. 1 FreizügG das Recht auf Nachzug, so dass ihm das begehrte Visum zum Familiennachzug zu erteilen ist. Soweit die Antragsgegnerin dies mit der alleinigen Begründung versagt hat, er verfüge nicht über deutsche Sprachkenntnisse, ist dies rechtswidrig, da die Vorschrift des § 30 Nr. 1 Nr. 2 AufenthG, auf die sich die Antragsgegnerin bezieht, weder direkt noch entsprechend gemäß § 11 Nr. 1 S. 1 FreizügG anwendbar ist. [...]