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VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 21.11.2008 - A 5 K 1106/08 - asyl.net: M14491
https://www.asyl.net/rsdb/M14491
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum (hier: Pfingstgemeinde); § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung nicht entgegen, wenn keine selbstgeschaffene Verfolgungsprovokation gegeben ist, etwa bei einem Religionswechsel aufgrund ernsthafter Erwägungen und in Ausübung der Religionsfreiheit.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Christen, Pfingstgemeinden, Konversion, Apostasie, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall, Religionsfreiheit, religiös motivierte Verfolgung, Religion, religiöses Existenzminimum, Missionierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 2; GG Art. 4 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum (hier: Pfingstgemeinde); § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung nicht entgegen, wenn keine selbstgeschaffene Verfolgungsprovokation gegeben ist, etwa bei einem Religionswechsel aufgrund ernsthafter Erwägungen und in Ausübung der Religionsfreiheit.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. d. Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union. Der dem entgegenstehende Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 04.06.2008 ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. [...]

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG liegen vor. Auch greift der geltend gemachte Anspruch in der Sache durch. Der Kläger hat in seinem Asylfolgeantrag vom 07.03.2008 dargelegt, dass er am 23.01.2008 getauft wurde. Die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG ist damit gewahrt. Vor dem Hintergrund dieser geänderten Sachlage hat der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dieser Annahme steht zunächst nicht § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegen, wonach in der Regel die Flüchtlingseigenschaft in einem Folgeverfahren nicht zuerkannt werden kann, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und er sein Vorbringen auf subjektive Nachfluchtgründe stützt, die er nach der Rücknahme oder unanfechtbaren Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. Diese Bestimmung soll ausschließen, dass sich ein nicht vorverfolgter Ausländer durch eine risikolose Verfolgungsprovokation vom gesicherten Ort aus ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland selbst erzwingen kann (vgl. Hailbronner, AuslR, § 28 AsylVfG Rn. 24). Diesem Personenkreis soll im Falle eines Erstantrags kein Recht auf Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG und im Falle eines Folgeantrags darüber hinaus auch kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zukommen. Hiervon zu unterscheiden sind allerdings atypische Fallgestaltungen, in denen dem Ausländer gerade nicht vorgehalten werden kann, er habe den Verfolgungstatbestand bewusst im Aufnahmeland risikolos geschaffen, also diejenigen Fälle, in denen eine aus eigenem Entschluss herbeigeführte Verfolgungsprovokation gerade nicht gegeben ist. Derartige atypische Fallgestaltungen werden von der Regelbestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht erfasst. Eine derartige Ausnahme muss nach Auffassung der Kammer etwa in dem Fall eines Ausländers angenommen werden, der seine religiöse Überzeugung aufgrund ernsthafter Erwägungen in Ausübung der ihm zukommenden Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG wechselt, der also beispielsweise aufgrund einer ernsthaften Gewissensentscheidung vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert. Sofern danach ein Glaubenswechsel nicht aus Opportunitätsgründen im Sinne einer Verfolgungsprovokation erfolgt, sondern auf einer - wie im Falle des Klägers darzulegen sein wird - ernsthaften und für das Gericht nachvollziehbaren, nicht bloß vorgeschobenen Änderung der religiösen Einstellung beruht, kommt die Ausschlussbestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht zur Anwendung (Hailbronner, a.a.O., Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Kommentar, § 28 Rn. 31, 49, 49.1).

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. der RL 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 - RL - darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit u. a. wegen seiner Religion bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der RL ergänzend anzuwenden (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Nach Art. 10 Abs. 1 b RL umfasst der bei den Verfolgungsgründen zu berücksichtigende Begriff der Religion insbesondere Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dies verbietet eine Beschränkung des Flüchtlingsschutzes insbesondere auf dem privaten Bereich als "religiöses Existenzminimum" im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Das hiernach beim Kläger durchzuführende weitere Asylverfahren ergibt unter Einbeziehung des gesamten Lebenssachverhalts, dass Leben oder Freiheit des Klägers wegen seiner Religion bedroht ist, weil ihm nach seiner Konversion zum christlichen Glauben die genannten Gefahren im Iran drohen. [...]

Nach der dem Gericht zur Verfügung stehenden einheitlichen Auskunftslage leben zwar die Muslime im Iran mit den Angehörigen der drei weiteren durch die Verfassung anerkannten Religionsgemeinschaften (Christentum, Zoroastrismus und Judentum) im Wesentlichen friedlich nebeneinander. Mitglieder solcher religiöser Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören, können aber staatlichen Repressionen ausgesetzt sein. Dies gilt insbesondere für alle missionierenden Christen. Es kommt aber nach der Einschätzung des Auswärtigen Amts auch vor, dass nicht missionierende, zum Christentum konvertierte Iraner bis hin zur Ausgrenzung benachteiligt werden (vgl. AA, Lageberichte v. 21.09.2006, 18.03.2008). Eine noch erheblichere Gefährdung als das Auswärtige Amt sieht die Schweizerische Flüchtlingshilfe im Bericht vom 18.10.2005. Danach sind Konvertiten einer erhöhten Gefährdungssituation ausgesetzt. Grund hierfür sei die Vermutung der Behörden, mit der Konversion gehe eine regimekritische Handlung einher. Berichten zufolge wurden Konvertiten, sobald ihr Übertritt durch die Betätigung dieses Glaubens den Behörden bekannt wurde, zum Informationsministerium zitiert, wo sie wegen ihres Verhaltens scharf verwarnt wurden. Sollten sie weiterhin in der Öffentlichkeit auffallen, beispielsweise durch Besuche von Gottesdiensten, Missionsaktivitäten o.ä., könnten sie je nach Belieben von den iranischen Behörden mit Hilfe konstruierter Vorwürfe wie Spionage, Aktivitäten in illegalen Gruppen oder aus anderen Gründen vor Gericht gestellt werden. Dabei wird hervorgehoben, dass die Verfolgung eines Konvertiten durch den iranischen Staat in großem Ausmaß von seinem Verhalten in der Öffentlichkeit abhängt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe beruft sich bei ihrer Beurteilung der Gefährdungslage in erster Linie auf die Stellungnahmen und Auskünfte des Deutschen Orientinstituts (vgl. z. B. 22.11.2004 an VG Kassel). Diesen Auskünften ist zusammenfassend zu entnehmen, dass Apostaten im Falle ihrer öffentlichen christlichen Glaubensbetätigung im Iran einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt sind. Eine Gefährdung bestünde nur dann nicht, wenn religiöse Handlungen in privaten Räumen in der Weise vorgenommen würden, dass hiervon niemand etwas erfahre. Soweit allerdings über diesen privaten Bereich hinausgegangen werde, sei es wahrscheinlich, dass iranische Sicherheitskräfte in der Glaubensbetätigung eine verbotene oppositionelle Aktivität unter dem Deckmantel der Religion vermuteten. Seit der Wahl Ahmadinedschads im Juni 2005 hat sich die Situation für Christen eher verschlechtert, denn es sind weitere Verfolgungen von Konvertiten bekannt geworden. Diese für Apostaten und Christen im Iran verschärfte Situation kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Iran in den Jahren 2006 und 2007 an dritter Stelle auf dem Weltverfolgungsindex des Christlichen Hilfswerks "Open Doors" stand (vgl. AA, Lagebericht vom 24.03.2006). Die fast einstimmige Abstimmung hinsichtlich eines Gesetzes über die Todesstrafe für Apostaten im Herbst 2008 spricht ebenfalls eine eindeutige Sprache Nach dieser Auskunftslage steht jedenfalls fest, dass konvertierte Muslime bei einer Rückkehr in den Iran nicht an religiösen Riten teilnehmen, insbesondere christliche Gottesdienste nicht besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dies gilt erst recht, wenn sie in der Öffentlichkeit missionierend tätig sind (vgl. dazu auch: Sächs. OVG, Urt. v. 03.04.2008 - A 2 B 36/06 -).

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist deutlich geworden, dass sich der Kläger nicht mit dem Ziel hat taufen lassen, ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten, sondern dass die gewonnene Glaubenszugehörigkeit zu seiner religiös-personalen Identität gehört, die er im Iran nicht zu verstecken bereit ist.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung substantiiert und ohne Übertreibung seinen Weg zum Glauben geschildert und insbesondere nachvollziehbar seine "Doppeltaufe" erklärt, nachdem ihm seine Taufe vom 23.01.2008 in der evangelischen Kirche Brühl für seine Persönlichkeit nicht ausgereicht hat. Vor diesem Hintergrund hat er sich im Juli 2008 erneut bei der freikirchlichen Pfingstgemeinde taufen lassen. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass diese "Umorientierung" der aktiven Glaubensüberzeugung des Klägers entspricht. Kenntnisse über seinen neuen Glauben, der auch das Missionieren als wesentlichen Inhalt hat, hatte der Kläger ebenfalls. [...]