VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 10.12.2008 - 6 A 556/04 - asyl.net: M14510
https://www.asyl.net/rsdb/M14510
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Serbien wegen depressiver Störung in Verbindung mit Suizidgefahr aufgrund der unsicheren Lebensperspektive nach der Abschiebung.

 

Schlagwörter: Serbien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Suizidgefahr, Situation bei Rückkehr, fachärztliche Stellungnahme, eigene Sachkunde
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Serbien wegen depressiver Störung in Verbindung mit Suizidgefahr aufgrund der unsicheren Lebensperspektive nach der Abschiebung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Kläger leidet zur Überzeugung des Gerichts unter einer Erkrankung, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt. [...]

Der vom Gericht als Gutachter beauftragte Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse, Prof. Dr. Machleidt, kommt in seinen Sachverständigengutachten vom 23.10.2007 und 26.03.2008 zu dem Ergebnis, dass der Kläger an einer rezidivierenden, depressiven Störung mit leichten und mittelschweren Episoden (ICD-10: F33.0, F 33.1, DSM - IV 296.31, 296.32) leidet. Danach ist für den Fall einer Abschiebung nach Serbien über den reinen Abschiebungsvorgang hinaus eine akute Suizidalität anzunehmen. [...]

Liegt eine fachärztliche Stellungnahme vor, die einem Ausländer eine psychische Erkrankung bescheinigt, so kann das Gericht regelmäßig mangels hinreichender eigener Sachkunde die Bescheinigung nicht von sich aus als nicht aussagekräftig ansehen (vgl. Nds. OVG, B. v. 14.09.2000 - 11 M 2486/00 -). Anders ist es nur dann, wenn die ärztliche Stellungnahme nicht nachvollziehbar ist, weil sie insbesondere keine den anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begründung enthält, weil sie von anderen, nicht offensichtlich unzureichenden ärztlichen Bescheinigungen abweicht, oder weil sie nicht erkennen lässt, dass objektiv bestehende diagnoserelevante Zweifel berücksichtigt wurden (vgl. VG Braunschweig, U. v. 28.03.2006 - 6 A 446/04 -). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. [...]

Wird einem Ausländer eine depressive Störung bescheinigt, so führt dies nicht zwingend zu einem Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. VG Braunschweig, U. v. 28.11.2006 - 6 A 598/05 - und U. v. 19.03.2004, NVwZ-RR 2005, 65, 66). Erhebliche Gefahren für Leib oder Leben treten bei Depressionen nicht zwangsläufig ein, wenn die Behandlung nicht fortgeführt wird (vgl. Treiber, in: Asylpraxis Band 7, Seite 27 f.). Darüber hinaus sind derartige Erkrankungen vielfach ausschließlich auf die Situation des Ausländers im Bundesgebiet zurückzuführen. Psychische Beeinträchtigungen, die ausschließlich durch die Situation des Ausländers im Bundesgebiet verursacht sind und die sich in seinem Heimatland nicht zu verschlimmern drohen, können zielstaatsbezogen in einem Asylverfahren zu berücksichtigende Abschiebungshindernisse jedoch nicht begründen (vgl. VG Braunschweig, U. v. 19.03.2004, a.a.O.). Soweit derartige Beeinträchtigungen der Abschiebung als solcher entgegenstehen, können sie als sogenannte inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse allein von den Ausländerbehörden im ausländerrechtlichen Verfahren berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, a.a.O.). Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die auch in weniger entwickelten Gesundheitssystemen zur Behandlung von Depressionen zur Verfügung stehenden Maßnahmen in einigen Fällen ausreichen können, um jedenfalls eine Verschlimmerung der seelischen Erkrankungen in einem den Schutzanspruch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausschließenden Umfang zu verhindern.

Nach den Gutachten von Prof. Dr. ... ist davon auszugehen, dass im Falle der Abschiebung ein Suizid des Klägers droht. Insoweit wird in dem Zusatzgutachten vom 26.03.2008 ausgeführt, dass zwar der Abschiebungsvorgang als solcher sicherlich ängstigend und in gewisser Weise auch kränkend für den Kläger wirkt, jedoch nicht Ursache für die depressive Störung ist. Vielmehr ist die Ursache der rezidivierenden Störung und der anzunehmenden Suizidalität bei einer Rückkehr im Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu sehen. Ein maßgeblicher Faktor ist die ungewisse und durch zukünftige Abschiebungsbescheide konkret bedrohte Lebenssituation in Deutschland und die aus Sicht des Klägers bei einer Rückkehr nach Serbien keinesfalls vorhandene Zukunftsperspektive. Diese Perspektivlosigkeit begründet sich sowohl in den zu erwartenden Verhältnissen in Serbien, als auch in der aktuellen depressiven Erkrankung, deren Symptom sie ist. Ein maßgeblicher Umstand ist insoweit die Unsicherheit über den weiteren Aufenthaltsort, die Zukunft der Familie des Klägers und insbesondere die voraus zu sehenden Probleme für seine drei in Deutschland geborenen, der serbokroatische Sprache nicht mächtigen, minderjährigen Kinder. Dementsprechend droht sich die Suizidgefahr nach den fachärztlichen Stellungnahmen nicht allein mit dem Abschiebungsvorgang als solchem zu verwirklichen, sondern würde bei einer Rückkehr nach Serbien unvermindert fortbestehen. Daher kann nicht lediglich von einem inlandsbezogenen Vollstreckungshindernis ausgegangen werden, das allein von der Ausländerbehörde im ausländerrechtlichen Verfahren berücksichtigt werden dürfte. Vielmehr steht ein in Serbien angelegtes Moment als für die Suizidalität des Klägers auslösender Umstand im Vordergrund. Da die konkrete Suizidgefahr auch direkt für den Zeitpunkt der Rückkehr anzunehmen ist, ist die Gefahr für Leib und Leben des Klägers auch im oben genannten Sinne konkret.

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die konkrete Suizidgefahr im Falle einer Rückkehr nach Serbien durch dort mögliche Maßnahmen sicher beseitigt werden könnte. Auf die direkte entsprechende Nachfrage des Gerichts hat Prof. Dr. ... in dem Zusatzgutachten vom 26.03.2008 ausdrücklich ausgeführt, dass geeignete unmittelbar anwendbare Maßnahmen, die die akute Gefahr der Suizidalität ausschließen oder beseitigen könnten, nicht existieren. Unter Berücksichtigung der fachärztlichen Feststellungen zur Entwicklung der psychischen Erkrankung des Klägers und ihren spezifischen Ursachen, hält das Gericht diese Feststellung für nachvollziehbar und folgt nicht der entgegenstehenden Argumentation der Beklagten. Diese geht davon aus, dass sich die Einnahme von Antidepressiva in der Vergangenheit, insbesondere bei dem Aufenthalt des Klägers in der Privatnervenklinik ... in ... als geeignete Maßnahme zur Abwehr der Suizidgefährdung erwiesen habe. [...]

Gegen diese Argumentation spricht, dass die vom Kläger angenommenen Perspektivlosigkeit, als ein maßgeblicher Grund für seine Suizidalität, in den zu erwartenden Verhältnisse in Serbien begründet ist (s.o.). Würde der Kläger zwangsweise nach Serbien verbracht, würden sich aus seiner subjektiven Sicht die schlimmsten Befürchtungen verwirklichen. Auch objektiv sind Probleme, z.B. bei der Eingewöhnung der minderjährigen Kinder des Klägers in Serbien zu erwarten. Vor diesem Hintergrund wäre die Situation bei einer Rückkehr nach Serbien keinesfalls mit den Situationen, in denen der Kläger während seines Aufenthaltes in Deutschland medikamentös behandelt wurde, vergleichbar. Die positiven Erfahrungen mit einer medikamentösen Behandlung in einer sicheren Umgebung können daher nach Ansicht des Gerichts nicht auf eine medikamentöse Behandlung gerade in der der Depression und Suizidalität zugrunde liegenden Situation in Serbien übertragen werden. Daher liegen keine Anhaltspunkte vor, die für die Annahme geeigneter, unmittelbar anwendbarer Maßnahmen zum Ausschluss oder zur Beseitigung der Gefahr eines Suizids in Serbien entgegen den Ausführungen des Facharztes sprechen. [...]