VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 12.11.2008 - 4 E 1855/06.A - asyl.net: M14534
https://www.asyl.net/rsdb/M14534
Leitsatz:

Keine kostenlose medizinische Behandlung im Kosovo; schwere psychische Erkrankungen im Kosovo nicht behandelbar; kein Zugang zu kostenloser medizinischer Behandlung für Angehöriger ethnischer Minderheiten im Serbien.

 

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, Ermessen, Diabetes mellitus, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Serbien, Registrierung, Existenzminimum, psychische Erkrankung, Depression, Angststörung, Ermessensreduzierung auf Null, Situation bei Rückkehr, Gorani
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

Keine kostenlose medizinische Behandlung im Kosovo; schwere psychische Erkrankungen im Kosovo nicht behandelbar; kein Zugang zu kostenloser medizinischer Behandlung für Angehöriger ethnischer Minderheiten im Serbien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist hinsichtlich des Klägers zu 1. in vollem Umfang begründet und bezüglich der Klägerin zu 2. insoweit, als sie einen Anspruch auf Neubescheidung durch das Bundesamt hat. Dabei geht das Gericht davon aus, dass von dem ausdrücklichen Verpflichtungsantrag der Klägerin zu 2. auch der Antrag auf Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts umfasst ist (Kopp/Schenke, VwGO, 2007, § 88 Rdnr. 3; § 91 Rdnr. 9). [...]

Der Kläger zu 1. kann einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 03.08.1993 bezüglich der Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG allerdings nicht auf § 51 VwVfG stützen, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. [...] Dabei ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG) und der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis des Betroffenen von dem Grund für das Wiederaufgreifen gestellt worden ist (§ 51 Abs. 3 VwVfG).

Danach scheitert der Anspruch des Klägers zu 1. auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG bereits daran, dass er seine Diabetes-Erkrankung nicht innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis hiervon im Rahmen eines Asylfolgeantrags vorgetragen hat. Aus der ärztlichen Bescheinigung von Dr. ... vom 10.03.2008 (Gerichtsakte Bl. 169) ergibt sich vielmehr, dass der Kläger zu 1. im Jahr 1997 an Diabetes des Typs 2 erkrankt ist und dass zur Behandlung des Klägers zu 1. seit April 2003 eine Insulintherapie in Kombination mit Metformin erforderlich ist. Erst mit dem Asylfolgeantrag im Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 02.11.2006 hat der Kläger zu 1. aber diese Erkrankung zum Gegenstand des Asylfolgeantrags gemacht. [...]

Bezüglich des Klägers zu 1. liegen aber die Voraussetzungen für eine Abänderung der vom Bundesamt getroffenen Feststellung im Wege einer Ermessensentscheidung nach §§ 48, 49, 51 Abs. 5 VwVfG vor, die anders als im Rahmen einer Entscheidung nach § 71 Abs. 1 AsylVfG und des Begehrens der Asylanerkennung und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht gesperrt ist (BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 1 C 15/03, BVerwGE 122, 103). Denn das Gericht geht aufgrund des Vortrags des Klägers zu 1., der von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse über die medizinische Versorgung im Kosovo und der Republik Serbien davon aus, dass sich die Erkrankung des Klägers zu 1. bei einer Rückkehr in den Kosovo erheblich verschlechtern würde, weil er dort die erforderliche medizinische Behandlung nicht erhalten würde und dass sich daraus unmittelbar lebensbedrohliche Zustände für den Kläger zu 1. ergeben. Dies hat weiter zur Folge, dass aufgrund dieser extremen Gefährdung des Klägers zu 1. das Ermessen des Bundesamtes auf Null reduziert ist und eine entsprechende Feststellung durch das Bundesamt zu erfolgen hat (BVerwG, Urteil vom 20.10.2004, a.a.O.). [...]

Die erforderliche ärztliche Behandlung und insbesondere die Medikamentation mit Insulin kann der Kläger zu 1. im Kosovo nicht mit der erforderlichen Gewissheit erreichen (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 28.09.2004, 7 A 22060, Juris; allgemein zur prekären Gesundheitsfürsorge im Kosovo Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo. Zur Lage der medizinischen Versorgung vom 07.07.2007; UNKT, Erste Beobachtungen zu Defiziten im Gesundheitsversorgungssystem im Kosovo, Januar 2007). Zwar ist davon auszugehen, dass die Erkrankung des Klägers im Kosovo grundsätzlich behandelt werden kann. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich das Gesundheitswesen im Kosovo in einem äußerst prekären Zustand befindet und die Behandlungsmöglichkeiten wegen vieler personeller und sachlicher Mängel und finanzieller Unterausstattung stark eingeschränkt sind (UNHCR an Rechtsanwältin H.lF. vom 20.07.2007; UNKT, Erste Beobachtungen zu Defiziten im Gesundheitsversorgungssystem im Kosovo vom 01.01.2007). Deshalb kann bereits fraglich sein, ob eine ausreichende Menge an erforderlichen Insulinpräparaten und der weiteren, vom Kläger benötigten Medikamente jederzeit – was erforderlich wäre – im Kosovo vorrätig sind und abgegeben werden. Entscheidend ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger diese Medikamente auch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommt und dass er ausreichende Mittel haben würde, diese käuflich zu erwerben.

Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und der Bezug von Medikamenten im öffentlichen Gesundheitswesen nicht kostenfrei ist, sondern von Zuzahlungen in geringer Höhe abhängig ist. Bestimmte Personengruppen wie Invalide, Kinder und chronisch Kranke wie Empfänger sozialhilfeähnlicher Leistungen sind offiziell von solchen Zuzahlungen befreit (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien <Kosovo> vom 29.11.2007, S. 19). Auch Medikamente auf der essential drugs list des Gesundheitsministeriums werden nur gegen Eigenbeteiligung abgegeben, soweit sie denn verfügbar sind. Allerdings erhalten auch Personen, die von Zuzahlungen befreit sind, regelmäßig ärztliche Leistungen und Medikamenten nur gegen (informelle) Zahlungen an das Gesundheitspersonal (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo. Zur Lage der medizinischen Versorgung – Update, 07.06.2007).

Es kann offen bleiben, ob der Zugang des Klägers zu 1. zum Gesundheitssystem im Kosovo als Angehöriger einer Minderheit darüber hinaus weitergehenden Restriktionen ausgesetzt ist, kommt es deshalb nicht an. Dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr in den Kosovo die für seine Behandlung danach aufzubringenden finanziellen Mittel aus eigenem Arbeitseinkommen aufbringen könnte, erscheint nämlich ausgeschlossen. Denn bei einer Arbeitslosigkeit von fast 50% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, den Schwierigkeiten von Minderheiten und von aus der Bundesrepublik Deutschland zurückkehrenden Personen, eine Erwerbsarbeit zu finden sowie der Erkrankung des Klägers zu 1. dürfte die Vorstellung, dass es gerade dem Kläger gelingen könnte, eine Arbeit zu finden, illusorisch sein. Und soweit er – und seine Familie – denn in den Genuss von sozialhilfeähnlichen Leistungen käme, reichten diese noch nicht einmal dazu, die Lebenshaltungskosten zu decken, geschweige denn, daraus Mittel für ärztliche Behandlungen und Medikamente aufzubringen (insgesamt hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien <Kosovo> vom 29.11.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo. Zur Lage der medizinsichen Versorgung – Update, 07006.2007; VG Stuttgart, Urteil vom 18.12.2006 – A 11 K 1432/06 –, Juris).

Mit einer Unterstützung seiner Familie oder sonstiger Verwandter, die für die Behandlungskosten aufkommen würden, kann der Kläger nicht rechnen. [...]

Der Kläger zu 1. kann auch nicht auf die Republik Serbien selbst verwiesen werden, wobei das Gericht davon ausgeht, dass Serbien auch nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo den Kläger zu 1. weiterhin als eigenen Staatsangehörigen ansieht und diesem eine Einreise in die Republik Serbien deshalb grundsätzlich möglich wäre. Denn aus den vom Gericht eingeholten Auskünften (Auswärtiges Amt vom 20.05.2008, UNHCR vom 02.10.2008) ergibt sich, dass der Kläger zu 1., der nicht direkt aus dem Kosovo nach Serbien reisen, sondern aus einem Drittland dorthin einreisen würde, praktisch keine Möglichkeit hat, als Binnenvertriebener registriert zu werden, was aber Voraussetzung für den Bezug der kostenlosen ärztlichen Leistungen und kostenlosen Versorgung mit Medikamenten ist. Davon, dass der Kläger zu 1. ein Erwerbseinkommen erzielen könnte, das auch noch die Bezahlung von Medikamenten und medizinischer Behandlung ermöglicht, kann angesichts der Ablehnung, die Minderheiten in der Republik Serbien erfahren, nicht ausgegangen werden (UNHCR an VG Stuttgart vom 27.09.2005).

Auch für die Klägerin zu 2. ergibt sich ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht aufgrund von § 51 VwVfG. [...]

Allerdings liegen auch bei ihr die Voraussetzung für eine Abänderung der vom Bundesamt getroffenen Feststellungen im Wege einer Ermessensentscheidung nach §§ 48, 49, 51 Abs. 5 VwVfG vor. [...]

Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin an einer Angst- und depressiven Störung leidet, die diagnostiziert ist und mit Antidepressiva und psychotherapeutischen Gesprächen behandelt wird. Dabei handelt es sich um eine schwere Form der Erkrankung. [...]

Zwar ergibt sich aus den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Unterlagen, dass es auch im Kosovo Einrichtungen zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Betreuung von Patienten gibt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien [Kosovo] vom 29.11.2007; Deutsches Verbindungsbüro Kosovo an VG Düsseldorf vom 02.08.2006, Deutsches Verbindungsbüro Pristina an VG Kassel vom 19.07.2006). Allerdings mehren sich in neuerer Zeit die Stimmen, die darauf hinweisen, dass eine Vielzahl von behandlungsbedürftigen Personen im Kosovo nicht angemessen psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt werden können (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo. Zur Lage der medizinischen Versorgung, Update vom 07.06.2007; UNKT, 1. Beobachtungen zu Defiziten im Gesundheitsversorgungssystem Kosovo vom 01.01.2007; UNMIK, Memorandum des Gesundheitsministers der provisorischen Selbstverwaltung an die internationale Gemeinschaft zu Behandlungskapazitäten für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder ähnlichen Krankheiten vom 30.10.2006). Auch das Bundesamt selbst geht inzwischen offenbar davon aus, dass eine hinreichende psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung im Kosovo regelmäßig nicht erreichbar ist (Bescheid des Bundesamtes vom 06.12.2006 Az.: 5290163133). Das ist aufgrund der Vielzahl der durch den vorangegangenen Bürgerkrieg psychisch erkrankten Personen und die begrenzte Zahl von entsprechend ausgebildeten Ärzten und Einrichtungen auch plausibel (vgl. Gierlichs, zur psychiatrischen Versorgung im Kosovo, ZAR 2006, 277). Deshalb ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2. die erforderliche psychotherapeutische Behandlung bei einer Rückkehr in den Kosovo nicht erreichen kann (vgl. auch VG Göttingen, Urteil vom 30.05.2007 3 A 454/05, Juris). Im Übrigen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 2. selbst dann, wenn sie eine medikamentöse und psychologische Behandlung ihrer Erkrankung im Kosovo erreichen könnte, die für ihre Behandlung erforderlichen Kosten aufbringen könnte (Schweizerische Flüchtlingshilfe: Kosovo. Zur Lage der medizinischen Versorgung Update, 07.06.2007; VG Stuttgart, Urteil vom 18.12.2006 A 11 K 1432/06, Juris). Insoweit gilt nichts anderes als für den Kläger zu 1.

Die Klägerin zu 2. kann auch nicht auf die Republik Serbien im Übrigen verwiesen werden. Denn dort erfolgt bei psychischen Erkrankungen in der Regel nur eine medikamentöse Behandlung (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Serbien vom 23.04.2007, S. 22). Soweit überhaupt eine für die Klägerin zu 2. erforderliche psychotherapeutische Behandlung angeboten wird, ist diese schon in der Regel schwer erreichbar. Für die Klägerin durfte sie überhaupt nicht erreichbar sein, da sie als Angehörige einer Minderheit Diskriminierungen ausgesetzt wäre und auch bei der Gesundheitsversorgung gegenüber Minderheiten allgemein "Serben zuerst" gilt (Müller, Zusatzgutachten zum allgemeinen Gutachten zur Situation der Gorani [Goranei] im Kosovo [in der Fassung vom 29.11.2004] zur Situation von Angehörigen der Gorani – Volksgruppe aus dem Kosovo in Serbien vom 09.02.2005). Im übrigen gilt auch hier wie bei dem Kläger zu 1., dass aufgrund der im Verfahren eingeholten Auskünfte fest steht, dass die Klägerin zu 2. eine Registrierung als Binnenflüchtling nicht erreichen und sie deshalb nicht in den Genuss eines kostenlosen Bezugs von Leistungen des Gesundheitssystem kommen würde. Und ein auskömmliches Arbeitseinkommen wird sie aus den oben für den Kläger zu 1. genannten Gründen ebenfalls nicht erzielen können.

Ist nach alledem vom Vorliegen eines Abschiebungshindernisses in der Person der Klägerin zu 2. bezüglich der Republik Kosovo und der Republik Serbien im Übrigen auszugehen, so hat die Klägerin zu 2. gleichwohl keinen Anspruch auf die entsprechenden Feststellungen durch das Bundesamt. Dies wäre nur der Fall, wenn das der Beklagten insoweit nach §§ 48, 49, 51 Abs. 5 VwVfG zustehende Ermessen auf Null reduziert wäre. Davon wäre nur dann auszugehen, wenn die Klägerin zu 2. bei Rückkehr in den Kosovo oder in die Republik Serbien einer extremen Gefährdung durch eine lebensgefährliche Erkrankung oder einer unmittelbaren Todesgefahr ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 20.10.2004, 1 C 15/03, a.a.O.). Dass dies der Fall wäre, kann das Gericht aber aufgrund der vorliegenden Unterlagen und auch den Erklärungen der sachverständigen Zeugin nicht feststellen.

Allerdings erweist sich vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen der angefochtene Bescheid gleichwohl als rechtswidrig. Denn das Bundesamt hat das ihm nach §§ 48, 49, 51 Abs. 5 VwVfG zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. In dem angefochtenen Bescheid ist es nämlich unzutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin zu 2. bei einer Rückkehr in den Kosovo eine ausreichende medizinische Versorgung erhalten kann. Damit legt es seiner Ermessensausübung einen mit den oben getroffenen Feststellungen nicht zu vereinbarenden Sachverhalt zugrunde. Das führt zur Rechtswidrigkeit der getroffenen Ermessensentscheidung. Der angefochtene Bescheid ist deshalb insoweit aufzuheben und die Beklagte zur Neubescheidung der Klägerin zu 2. unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). [...]