VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 28.10.2008 - 10 C 08.2363 - asyl.net: M14555
https://www.asyl.net/rsdb/M14555
Leitsatz:

Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebungskosten die finanzielle Leistungsfähigkeit des Ausländers übersteigen, hat die Behörde bereits im Leistungsbescheid eine Ermessensentscheidung über eine Stundung oder einen Erlass der Kosten zu treffen.

 

Schlagwörter: D (A), Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Abschiebungskosten, Leistungsbescheid, Ermessen, Leistungsfähigkeit, Stundung, Niederschlagung
Normen: VwGO § 166; ZPO § 114; AufenthG § 66 Abs. 1; AufenthG § 67 Abs. 1; AufenthG § 67 Abs. 3
Auszüge:

Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebungskosten die finanzielle Leistungsfähigkeit des Ausländers übersteigen, hat die Behörde bereits im Leistungsbescheid eine Ermessensentscheidung über eine Stundung oder einen Erlass der Kosten zu treffen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Prozesskostenhilfe nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO. [...]

1. Im vorliegenden Fall hat die Klage eine solche hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zwar hat ein Ausländer nach § 66 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich die Kosten einer Abschiebung zu tragen. Dazu gehören gemäß § 67 Abs. 1 AufenthG auch die im vorliegenden Fall angesetzten Beförderungs-, Abschiebungshaft- und Begleitungskosten. [...]

2. Allerdings hat die Rechtsprechung zu dem weitgehend wortgleich formulierten § 83 Abs. 4 AuslG und zu § 84 AuslG (Haftung für Verpflichtungsermächtigungen) Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Kostenerhebung zugelassen. Zunächst hat das Bundesverwaltungsgericht im Fall einer Verpflichtungserklärung für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge eine Ausnahme deswegen für erforderlich gehalten, weil die strikte Anwendung des Grundsatzes der vollen Kostenerhebung bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten Folgen haben könne, die vom Gesetzgeber nicht gewollt seien und mit den verfassungsrechtlichen Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit, insbesondere der Rücksichtnahme auf die individuelle Leistungsfähigkeit nicht vereinbar wären. Liege ein atypischer Sachverhalt vor, müsse dem nicht erst im Rahmen der vollstreckungsrechtlichen Entscheidung über Stundung, Niederschlagung oder Erlass Rechnung getragen werden; vielmehr sei bereits bei der Kostenerhebung ausnahmsweise eine Ermessenentscheidung zu treffen (vgl. BVerwG vom 24.11.1998 1 C 33/97, BVerwGE 108, 1). Diese Entscheidung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof auf den Bereich der Abschiebungskosten ungeachtet des Wortlautes des § 83 Abs. 4 Satz 1 AuslG – jetzt § 67 Abs. 3 Satz 1 AufenthG – übertragen und ausgeführt, dass bei fehlender Leistungsfähigkeit ein Ausnahmefall vorliege, der zu einer Ermessensbetätigung über die Kostenerhebung zwinge (vgl. BayVGH vom 15.12.2003 Az. 24 B 03.1049 InfAuslR 2004, 252/255). Dem hat sich der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof angeschlossen (vgl. Beschluss vom 7.3.2006 13 S 155/06 RdNr. 7 m.w.N.).

3. Wendet man die bisherige Rechtsprechung auch auf Kostenentscheidungen nach dem neuen § 67 AufenthG an, dann hat die Rechtsverfolgung des Klägers hinreichende Erfolgschancen. Denn der Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid vom 19. September 2007 keine Ermessenserwägungen angestellt. Es liegen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, dass ein zu einer Ermessensentscheidung verpflichtender Ausnahmesachverhalt vorliegt. Der vom Gesetz vorausgesetzte Regelfall, dass der Kläger aus seinem Vermögen oder aus seinen laufenden Einkünften die vollen Abschiebekosten tragen kann, liegt wahrscheinlich nicht vor. [...]

Der Beklagte hat jedoch keine Ermessenserwägungen zu der Frage angestellt, ob vom Kläger gleichwohl die vollen Kosten erhoben werden müssen. [...] Soweit er sich im Verlauf der zwischen den Beteiligten geführten Verhandlungen zur Stundung des Restbetrags bereit erklärt und eine Ratenzahlungsverpflichtung in Aussicht gestellt hat, ändert diese Ankündigung vollstreckungsrechtlicher Zugeständnisse nichts an der fehlenden Ermessensbetätigung bei der Kostenerhebung. Insofern liegt wahrscheinlich ein Ermessensfehler in Form des sogenannten Ermessensnichtgebrauchs – auch Ermessensausfall oder Ermessensunterschreitung genannt – vor. Daher hat auch die gegen den Leistungsbescheid erhobene Anfechtungsklage hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Beklagte gezwungen wäre, im Rahmen der noch ausstehenden Ermessensbetätigung die Abschiebungskosten ganz oder teilweise zu erlassen. Vielmehr besteht nur ein Anspruch auf gerechte Abwägung der für und gegen eine volle Kostenerhebung sprechenden Gesichtspunkte. Eine gerechte Abwägung der unterschiedlichen Interessen kann auch durch die bereits angekündigten Schritte (Stundung bis zur Arbeitsaufnahme, Ratenzahlungsvereinbarung) oder durch den Erlass von Zinsen erreicht werden. Diese inhaltliche Entscheidung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. An einer entsprechenden verbindlichen Ermessensbetätigung fehlt es jedoch bislang, worauf die Anfechtungsklage mit hinreichender Erfolgsaussicht gestützt werden kann. Hinzu kommt, dass im Fall eines vollständigen Ermessensausfalls eine Ergänzung der Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO grundsätzlich nicht möglich ist und dass daher eine Heilung nur durch Erlass eines Zweitbescheides in Frage kommt. [...]