VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 - asyl.net: M14571
https://www.asyl.net/rsdb/M14571
Leitsatz:

Trotz Amnestiegesetzes keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Verpflichtungsurteil, Rechtskraft, Bindungswirkung, Änderung der Sachlage, Amnestie, PKK, Verdacht der Unterstützung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Wehrdienstentziehung, Situation bei Rückkehr, Festnahme, Folter, Reformen, Menschenrechtslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Trotz Amnestiegesetzes keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der mit Bescheid vom 28. April 1995 ausgesprochenen Asylanerkennung und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht nicht vor. [...]

Dies folgt allerdings nicht bereits aus der Bindungswirkung des rechtskräftigen Verpflichtungsurteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Februar 1995 – A 3 K 11864/95.

Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert – sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft – (stRspr; vgl. BVerwG Urteil vom 23.11.1999 – 9 C 16.99, BVerwGE 110, 111; Urteil vom 24.11.1998 – 9 C 53.97, BVerwGE 108, 30; Urteil vom 8.12.1992 – 1 C 12.92, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 4.6.1970 – 2 C 39.68, BVerwGE 35, 234; Beschluss vom 18.3.1982 – 1 WB 41.81, BVerwGE 73, 348; Urteil vom 30.8.1962 – 1 C 161.58, BVerwGE 14, 359).

Zwar kann nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen lassen (BVerwG, Beschluss vom 3.11.1993 – 4 NB 33.93, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 66 = NVwZ-RR 1994, 236; vgl. auch Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rn. 72). Gerade im Asylrecht liefe ansonsten die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO weitgehend leer. Sofern es nämlich auf die allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ankommt, sind diese naturgemäß ständigen Änderungen unterworfen. Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (BVerwG, Urteil vom 18.9.2001, a.a.O.; Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.; Urteil vom 23.11.1999, a.a.O.; Beschluss vom 3.11.1993, a.a.O.; Urteil vom 4.6.1970, a.a.O.).

Dies ist jedenfalls im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist.

Dies ist vorliegend der Fall.

Eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- bzw. Rechtslage, die geeignet ist, die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Februar 1995 zu durchbrechen, stellt das Inkrafttreten des Amnestiegesetzes Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 9 C 53.97, BayVBl 1999, 376). Dieses findet auf vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten Anwendung und schließt die vom Verwaltungsgericht Stuttgart angenommene Strafverfolgung des Klägers nach § 169 tStGB a.F. oder nach Art. 7 Abs. 2 ATG a.F. wegen Unterstützung einer bewaffneten Organisation sowie nach Art. 8 ATG a. F. aus, da die genannten Straftatbestände eine Freiheitsstrafe von weniger als zehn Jahren vorsehen (vgl. Dr. Silvia Tellenbach vom 4.6.2007 an das VG Freiburg).

Der Widerufsbescheid kann gleichwohl keinen Bestand haben, da der vorverfolgt ausgereiste Kläger unter Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs in der Türkei vor asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen, die beim Kläger an den Verdacht der Unterstützung der PKK anknüpfen können, nicht hinreichend sicher ist. [...]

Da sich der 35 Jahre alte, mithin im wehrpflichtigen Alter befindliche Kläger (vgl. Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 11.9.2008), bei seiner Ausreise aus der Türkei dem Wehrdienst entzogen hat, ist bei einer Rückkehr in die Türkei schon auf Grund dieser Tatsache mit einer Festnahme des Klägers zu rechnen, die dann weitere Ermittlungen auch hinsichtlich des Verdachts der (früheren) Unterstützung der PKK und eventueller Aktivitäten im Bundesgebiet nach sich ziehen kann (vgl. Osman Aydin vom 20.9.2007 an das VG Sigmaringen; Kamil Taylan vom 21.12.2007 an das VG Sigmaringen; Serafettin Kaya vom 11.6.2008 an das VG Freiburg).

Ermittlungen und Verhöre, die Terrororganisationen wie die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen betreffen, werden für gewöhnlich von der Abteilung zur Bekämpfung des Terrors durchgeführt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei solchen Verhören weiterhin physischer oder psychischer Zwang eingesetzt wird (vgl. Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen, vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg und vom 20.9.2007 an das VG Sigmaringen; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. So sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.9.2006 – 11 LA 43/06; Urteil vom 18.7.2006 – 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 – 15 A 2202/00.A –; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 – 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 – 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen). Dies wird auch vom Auswärtigen Amt zugestanden. Es verweist u. a. darauf, dass nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen ist (vgl. wegen der weiteren Einzelheiten: Lagebericht Türkei vom 11.9.2008).

Nach einem Angriff von PKK-Rebellen auf einen türkischen Grenzposten mit 38 Toten hat sich die Situation seit Anfang Oktober 2008 weiter verschärft. Von der türkischen Regierung wurde als Folge des Angriffs die Vernichtung der PKK als wichtigstes Ziel ausgerufen (SZ vom 6.10.2008). Die türkische Armee forderte freie Hand gegen die PKK (SZ vom 8.10.2008). Das türkische Parlament verlängerte daraufhin die grenzüberschreitenden Kampfeinsätze der Armee gegen die PKK um ein Jahr (SZ vom 10.10.2008). [...]