VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 16.10.2008 - AN 1 K 08.30247 - asyl.net: M14575
https://www.asyl.net/rsdb/M14575
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Änderung der Sachlage, Amnestie, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Sänger, Med-TV, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Reformen, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Folter, Situation bei Rückkehr, Strafverfahren, Grenzkontrollen, Terrorismusvorbehalt, Streitwert
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 3 Abs. 2 Nr. 3; RVG § 30
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der mit Bescheid vom 27. Juni 2000 ausgesprochenen Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht nicht vor. [...]

Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass eine Änderung der Sach- und Rechtslage in der Türkei nach Erlass des Bescheides vom 27. Juni 2000 insbesondere durch das Inkrafttreten des Amnestiegesetzes Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 eingetreten ist. Dieses findet auf vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten Anwendung, womit auch der Auftritt des Klägers mit der Gruppe "..." bei ... TV am ... 1998 erfasst wird.

Das Amnestiegesetz schließt u.a. eine Bestrafung des Klägers wegen des genannten Auftritts nach § 7 Abs. 2 ATG a.F. und § 312 Abs. 1 tStGB a.F. (vgl. hierzu das vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeholte Gutachten des Serafettin Kaya vom 10. Mai 2000, in welchem eine Strafverfolgung des Klägers wegen Verwirklichung dieser Tatbestände prognostiziert wird), aber auch nach § 169 tStGB a.F. wegen Unterstützung einer bewaffneten Organisation (z. B. der PKK) aus, da die genannten Straftatbestände eine Freiheitsstrafe von weniger als zehn Jahren vorsehen (vgl. Dr. Silvia Tellenbach vom 4.6.2007 an das VG Freiburg).

Der Kläger hat jedoch nach dem 23. April 1999 seine exilpolitisch exponierte Tätigkeit im Bundesgebiet fortgesetzt.

So hat er in der mündlichen Verhandlung geschildert, nunmehr als Sänger der Gruppe "..." Anfang des Jahres 2007 im Fernsehsender ... TV aufgetreten zu sein.

Das Bundesinnenministerium verbot Mitte Juni 2008 den Betrieb von ... TV im Bereich der Bundesrepublik Deutschland mit der Begründung, der Sender sei in die Organisationsstruktur der PKK eingebunden. Die türkischen Behörden sehen den Sender ebenfalls als Sprachrohr der PKK an. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Sendungen von ... TV von türkischen Stellen genauestens beobachtet und ausgewertet werden (vgl. Helmut Oberdiek vom 20.6.2007 an das VG Magdeburg; Serafettin Kaya vom 10.6.2008 an das VG Freiburg). Diese haben deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit davon Kenntnis, dass der Kläger erneut, diesmal als Sänger der Gruppe "..." bei ... TV aufgetreten ist.

Weiter ist bei der Beurteilung der fortbestehenden Gefährdungssituation des Klägers maßgeblich zu berücksichtigen, dass dieser nach den Erkenntnissen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz zumindest als Sympathisant (Anhänger) der verbotenen Organisationen PKK bzw. KADEK bzw. KONGRA-GEL anzusehen und in Erscheinung getreten ist.

Generell ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst MIT auch in Deutschland oppositionelle Gruppierungen beobachtet. Neben der Auswertung von Zeitschriften (z.B. der "Özgür Politika", welche den eben genannten Organisationen nahe steht) wird offenbar versucht, mit nachrichtendienstlichen Mitteln weitere Erkenntnisse zu einschlägigen Veranstaltungen zu erlangen, wobei eine Identifizierung der Teilnehmer im Vordergrund zu stehen scheint (vgl. Hessisches Landesamt für Verfassungsschutz vom 4.3.2005 an das VG Darmstadt; Kamil Taylan vom 26.6.2004 an das VG Frankfurt/Oder). Hiervon ausgehend ist das erkennende Gericht überzeugt, dass die türkischen Behörden in Anbetracht des mehrfachen Auftritts des Klägers im kurdischsprachigen Auslandsfernsehen diesen im Bundesgebiet beobachten lassen und somit auch Erkenntnisse über die (sonstigen, PKK-nahen) exilpolitischen Aktivitäten des Klägers besitzen.

Trotz der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen in der Türkei, im Zuge derer u.a. am 1. Juni 2005 ein neues Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist (vgl. im einzelnen die Darstellung in den Lageberichten vom 11.11.2005 und vom 25.10.2007), ist unverändert davon auszugehen, dass für kurdische Volkszugehörige aus der Türkei, die sich – wie der Kläger u. a. durch die Auftritte bei ... TV und ... TV – besonders exilpolitisch exponiert haben, und deshalb in der Türkei als Aktivist der PKK angesehen werden können, in der Türkei die Gefahr politischer Verfolgung besteht (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 18.7.2006 – 11 LB 75/06; Urteil vom 11.10. 2000 – 2 L 4591/94; OVG Berlin, Urteil vom 25.9.2003 – 6 B 8.03; Hessischer VGH, Urteile vom 22.9.2003 – 12 UE 2351/02.A, vom 5.8.2002 – 12 UE 2172/99.A und vom 7.12.1998 – 12 UE 232/97; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.2.2004 – 15 A 4205/02.A; Urteile vom 27.6.2002 – 8 A 4782/99.A und vom 25.1.2000 – 8 A 1292/96.A; OVG Thüringen, Urteil vom 29.5.2002 – 3 KO 540/97; OVG Magdeburg, Beschluss vom 8.11.2000 – A 3 S 657/98; VHG Mannheim, Beschluss vom 14.9.2000 – A 12 S 1231/99).

Die verbotene PKK bzw. KADEK und KONGRA-GEL werden in der Türkei als terroristische Organisationen eingestuft (vgl. Seraffetin Kaya vom 10.9.2005 an das VG Sigmaringen). Auch in Anbetracht der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen in der Türkei kann zur Überzeugung des erkennenden Gerichts in Anknüpfung an die zitierte obergerichtliche Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden, dass die türkischen Behörden bei einer Rückkehr der Klägers in die Türkei dessen exilpolitische Betätigung zum Anlass nehmen werden, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Da der Kläger seinen Wehrdienst bisher nicht abgeleistet hat, ist schon auf Grund dieser Tatsache mit einer Festnahme des Klägers zu rechnen, die dann weitere Ermittlungen auch hinsichtlich der exilpolitischen Betätigung und des Verdachts der Unterstützung der PKK nach sich ziehen kann (vgl. Osman Aydin vom 20.9.2007 an das VG Sigmaringen; Kamil Taylan vom 21.12.2007 an das VG Sigmaringen; Serfattin Kaya vom 11.6.2008 an das VG Freiburg).

Ermittlungen und Verhöre, die Terrororganisationen wie die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen betreffen, werden für gewöhnlich von der Abteilung zur Bekämpfung des Terrors durchgeführt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei solchen Verhören weiterhin physischer oder psychischer Zwang eingesetzt wird (vgl. Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen, vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg und vom 20.9.2007 an das VG Sigmaringen; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen) oder dass es zu einem Strafverfahren kommt, das rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt (vgl. Helmut Oberdiek, Zur Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, zitiert in der Mitteilung von amnesty international vom 22.2.2006).

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. So sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.9.2006 – 11 LA 43/06; Urteil vom 18.7.2006 – 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 – 15 A 2202/00.A –; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 – 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 – 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg, S. 8; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen). Dies wird auch vom Auswärtigen Amt zugestanden. Es verweist u. a. darauf, dass nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen ist (vgl. wegen der weiteren Einzelheiten: Lagebericht vom 11.9.2008).

Nach einem Angriff von PKK-Rebellen auf einen türkischen Grenzposten mit 38 Toten hat sich die Situation seit Anfang Oktober 2008 noch weiter verschärft. Von der türkischen Regierung wurde als Folge des Angriffs die Vernichtung der PKK als wichtigstes Ziel ausgerufen (SZ vom 6.10.2008). Die türkische Armee forderte freie Hand gegen die PKK (SZ vom 8.10.2008). Das türkische Parlament verlängerte daraufhin die grenzüberschreitenden Kampfeinsätze der Armee gegen die PKK um ein Jahr (SZ vom 10.10.2008). [...]

Der Widerrufsbescheid vom 18. Juni 2008 kann auch nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG gestützt werden, wovon im Übrigen auch die Beklagte ausgeht. [...]

Nach den Feststellungen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz ist der Kläger Anhänger der verbotenen PKK, sympathisiert also mit dieser. Feststellungen, dass der Kläger terroristische Handlungen der PKK vom Bundesgebiet aus zumindest unterstützt oder erleichtert hat, konnten im vorliegenden Verfahren jedoch nicht getroffen werden. [...]

Gemäß § 30 Satz 1 RVG beträgt der Gegenstandswert in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz in Klageverfahren, die die Asylanerkennung einschließlich der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und die Feststellung von Abschiebungshindernissen betreffen, 3.000,00 EUR, in den sonstigen Klageverfahren 1.500,00 EUR. [...]

Aus dem Gesetzeswortlaut, der eindeutig und keiner anderen Auslegung fähig ist (vgl. zu den Grenzen der Auslegung eines Gesetzes: BVerwG, Urteil vom 29.6.1992 – 6 C 11.92, BVerwGE 90, 265, 269), folgt, dass der Gegenstandswert nur dann auf 3.000,00 EUR festzusetzen ist, wenn – anders als im vorliegenden Fall – der Rechtsstreit (zumindest auch) die Asylanerkennung betrifft. Ist dies nicht der Fall, liegt ein sonstiges Klageverfahren im Sinne des § 30 Satz 1 Halbsatz 2 RVG mit einem Gegenstandswert von 1.500,00 EUR vor. [...]