VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 16.10.2008 - AN 1 K 08.30257 - asyl.net: M14576
https://www.asyl.net/rsdb/M14576
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Imam, Predigtverbot, Festnahme, Separatismus, Strafverfahren, Verjährung, Amnestie, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Berufsfreiheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Reformen, Menschenrechtslage, politische Entwicklung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; IPbpR Art. 18 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet. [...]

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der mit Bescheid vom 7. September 1992 ausgesprochenen Asylanerkennung und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor.

Das Bundesamt hat auch zutreffend das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG verneint. [...]

Nimmt man den damaligen Sachvortrag des Klägers in den Blick, ist festzuhalten, dass der Kläger nach den vom Bundesamt für wahr unterstellten Angaben nicht mehr als Imam tätig sein durfte, da er in seinen Predigten die kurdische Frage und die Rechte der Kurden erörtert habe. Deshalb sei er zwischen 1985 und 1991 sechs Mal verhaftet worden. In ... sei er 1991 einen Monat von der Polizei festgehalten worden. Man habe ihm Separatismus und Unterstützung der Kurdenfrage vorgeworfen. Der Staatsanwalt habe zwar gegen ihn ermittelt, ein Verfahren sei aber nicht eröffnet worden. [...] Er sei zwar nicht gefoltert worden, jedoch bei der Festnahme von den Polizisten mit Gummiknüppeln geschlagen worden. [...]

Die vom Bundesamt wegen dieses Sachverhalts angenommene Gefährdungssituation für den Kläger besteht in Folge entscheidungsrelevanter Änderungen der Sachlage nicht mehr.

Denkbar gewesen wäre, dass sich der Kläger bei seinen Predigten als Imam nach Art. 241 tStGB a.F. strafbar gemacht hat. Diese Norm sprach ein Verbot der Politik von der Kanzel aus und sah eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr Gefängnis vor (Christian Rumpf vom 6.2.1992 an das Verwaltungsgericht Hamburg). Eine Strafverfolgung ist jedoch wegen Verjährung nicht mehr möglich (Art. 102 tStGB a.F.). Entsprechendes gilt für die Straftatbestände des Art. 159 tStGB a.F. (Verunglimpfung des Türkentums), des Art. 169 tStGB a. F. (Unterstützung einer bewaffneten Vereinigung) und Art. 7 Abs. 2 ATG (Unterstützung bzw. Propaganda für eine terroristische Organisation). Auch hier ist längst Verjährung eingetreten.

Eine Bestrafung wegen Begehung eines Delikts nach Art. 163 tStGB a.F., dessen Aufgabe es war, den Laizismus-Grundsatz mit strafrechtlichen Sanktionen zur Durchsetzung zu verhelfen, kommt ebenfalls nicht mehr in Betracht, da Art. 163 tStGB durch Art. 23 ATG zum 12. April 1991 aufgehoben worden ist (vgl. Christian Rumpf, a.a.O.).

Zudem ist eine Strafverfolgung des Klägers ausgeschlossen, da vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten, die die oben bezeichneten Tatbestände erfüllten, vom Amnestiegesetz Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 erfasst werden, das vorliegend Straffreiheit zur Folge hat. Der Erlass eines solchen Amnestiegesetzes wäre sogar geeignet, die Rechtskraft eines asylrechtlichen Verpflichtungsurteils zu durchbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 9 C 53.97, BayVBl 1999, 376).

Der mit den gegenüber dem Kläger 1989 und 1991 ausgesprochenen Verboten, als Imam zu predigen, verbundene Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung war zur Überzeugung des Einzelrichters nicht entscheidungserheblich für den Erlass des Bescheides vom 7. September 1992. Die mit dem Verbot verbundene Einschränkung der Religionsausübung betraf nämlich nicht deren asylrechtlich geschützten Kernbereich. Das sog. "religiöse Existenzminimum", die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, die Rede über den eigenen Glauben und das religiöse Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich sowie Gebet und Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, wurde durch das ausgesprochene Verbot nicht berührt (vgl. grundlegend: BVerfG, Beschluss vom 1.7.1987 – 2 BvR 478/86 u. a., BVerfGE 76, 143).

Die rechtsverbindlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie) führen nicht zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Widerrufsbescheides. [...]

Denn dem Kläger steht es jederzeit frei, seinen Glauben in der Türkei auch öffentlich, zum Beispiel in Gottesdiensten in einer öffentlichen Moschee, zu praktizieren. Eine asylerhebliche Einschränkung der öffentlichen Glaubensausübung ist nicht darin zu sehen, dass es dem Kläger eventuell weiterhin nicht möglich sein wird, als Imam zu predigen. Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass die vom deutschen Asylrecht, aber auch von der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie verfolgte Zielsetzung darin besteht, demjenigen Aufnahme und Schutz zu gewähren, der sich in einer für ihn ausweglosen Lage befindet (vgl. BVerfGE 80, 315, 335). In eine derartige Situation gerät der Kläger jedoch auch dann nicht, falls ihm die Tätigkeit als Imam weiterhin verwehrt werden sollte. Denn ihm bleibt die Möglichkeit, mit anderen Angehörigen seiner Glaubensgemeinschaft – auch in der Öffentlichkeit – seine Religion auszuüben.

Nur hilfsweise es ist deshalb darauf hinzuweisen, dass das dem Kläger gegenüber ausgesprochene Verbot nicht an die religiöse Überzeugung des Klägers angeknüpft hat, etwa mit dem Ziel, dass dieser tragende Inhalte seiner Glaubensüberzeugung preisgibt und somit seiner religiösen Identität beraubt wird (vgl. BVerwGE 80, 321, 324). Vielmehr ging es ersichtlich darum, dem Kläger politische Äußerungen zur Kurdenfrage von der Kanzel aus zu untersagen. Art. 18 Abs. 3 IPbpR lässt jedoch Einschränkungen der religiösen Ausübungsfreiheit zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten zu. Die gegen den Kläger gerichtete Maßnahme diente auch nicht – unzulässigerweise – der Ausgrenzung einer religiösen Minderheit.

Auf einen asylerheblichen Eingriff in seine Berufsfreiheit kann sich der Kläger ebenfalls nicht berufen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfGE 54, 341, 357; BVerfGE 76, 143, 158) und Bundesverwaltungsgerichts (z.B. Urteil vom 30.6.1992 – 9 C 52/91, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 154) geklärt, dass Eingriffe in andere Freiheitsrechte und Schutzgüter Verfolgungsqualität nur dann erreichen, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen. Hiernach können zwar auch Beeinträchtigungen der beruflichen Tätigkeit asylbegründend wirken, denn zu dem asylrechtlich geschützten Bereich der persönlichen Freiheit gehört grundsätzlich auch das Recht auf ungehinderte berufliche und wirtschaftliche Betätigung. Eine die Menschenwürde verletzende Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG ist aber grundsätzlich erst dann gegeben, wenn durch den Staat oder ihm zurechenbare Maßnahmen die wirtschaftliche Existenzgrundlage des Asylbewerbers insgesamt so bedroht oder vernichtet ist, dass damit jenes wirtschaftliche Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist, das für ein menschenwürdiges Dasein unverzichtbar ist. [...]

Der Kläger ist bei einer Rückkehr in die Türkei auch vor sonstigen, asylerheblichen Repressalien hinreichend sicher.

Seit November 2002 hat die AKP-Regierung ein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 1920er Jahren gilt. [...]

Es ist nicht ersichtlich, welches Interesse türkische Stellen derzeit noch am Kläger haben könnten. Obwohl dem Kläger bereits 1989 ein Predigtverbot auferlegt worden war, an welches er sich aber nicht hielt und deshalb im Jahr 1991 mit einem weiteren Verbot belegt wurde, konnte der Kläger im Jahr 1990 die Türkei problemlos verlassen und nach einem Urlaub im Ausland wieder in die Türkei zurückkehren. Wie der Kläger selbst angab, wurde von der Staatsanwaltschaft kein Verfahren gegen ihn eingeleitet. [...]