VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 24.09.2008 - Au 4 K 07.30185 - asyl.net: M14635
https://www.asyl.net/rsdb/M14635
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter mittelbarer Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen (syrisch-orthodoxe), Tur Abdin, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Religionsfreiheit, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsdichte
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter mittelbarer Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. [...]

1. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen vor. [...]

Die Feststellung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG im Bescheid des Bundesamtes vom 25. November 1997 erfolgte, weil zum damaligen Zeitpunkt die syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin einer mittelbaren staatlichen Verfolgung unterlagen (vgl. BayVGH vom 11.3.1996, Az. 11 BA 94.34648). Die Verhältnisse in der Türkei haben sich aber diesbezüglich so verändert, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat wegen ihrer syrisch-orthodoxen Glaubenszugehörigkeit vor Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher ist.

Klarer Sieger der Parlamentswahlen im November 2002 war die konservative, islamisch geprägte Gerechtigkeits- und Aufbau-Partei (AKP) mit 34,3 % der Stimmen. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet wurde (u.a. Abschaffung der Todesstrafe im August 2002), sind die - nach üblicher Zählung - acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004. Mit Inkrafttreten des 8. Gesetzespaketes am 1. Juni 2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Die Kernpunkte der bisherigen acht Reformpakete sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in weiteren in der Türkei gesprochenen Sprachen neben Türkisch (dies betrifft in erster Linie Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichternde Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z.B. bei den Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die zum 01.06.2005 in Kraft getretenen Strafgesetze sollen sich im Rahmen von EU-Standards halten. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert (vergleichbar Art. 25 GG). Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden. Die Reformen stehen in engem Zusammenhang mit dem politischen Ziel des Beitritts zur Europäischen Union und zielen erklärtermaßen auf eine weitere Demokratisierung der Türkei ab. Die bestehenden Implementierungsdefizite sind u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz auf Grund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie den Reformvorhaben der Zentralregierung oftmals großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen. Besonders wichtige Posten, z.B. der des Gouverneurs der Provinz Diyarbakir, werden mit Persönlichkeiten besetzt, die das Reformwerk ausdrücklich unterstützen (siehe dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.1.2007, Stand: Dezember 2006). Bei den Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007 hat die regierende AKP mit Ministerpräsident Erdogan mit knapp 46,62 % der abgegebenen Stimmen einen historischen Sieg errungen. Am 28. August 2007 wurde der bisherige Außenminister Gül im dritten Wahlgang zum 11. Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen, die anschließende Wahl des Präsidenten und die zügige Regierungsbildung haben zu einer Beruhigung und Konsolidierung der innenpolitischen Lage geführt. Sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdogan kündigten eine Fortsetzung der Reformpolitik an. In der türkischen Verfassung sind die Prinzipien der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz unabhängig von Religion oder Bekenntnis verankert (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 (Stand: September 2007)). Danach ist in der Praxis die individuelle Glaubensfreiheit weitgehend gewährleistet. Über staatliche Repressionsmaßnahmen, die gegen das individuelle Glaubensbekenntnis des Einzelnen gerichtet seien, lägen keine Berichte vor. Nichtstaatliche Repressionsmaßnahmen treten danach selten auf. Darüber hinaus dokumentiert der Lagebericht auch die Ermordung dreier Mitarbeiter eines christlichen Verlages sowie den Mord an einem katholischen Priester im Februar 2006 sowie an dem Journalisten Dink im Januar 2007. Hinsichtlich der syrisch-orthodoxen Christen wird ausgeführt, nachdem sich die Lage der Syriani im Südosten entspannt habe, gebe es erste Rückkehrer, insbesondere im Gebiet um Midyat. Früher häufige Übergriffe gegen Syriani und Yeziden kämen, soweit ersichtlich, nicht mehr vor. Aus dem vom Gericht in das Verfahren eingeführte Erkenntnismaterial ergibt sich allerdings, dass insbesondere im Jahr 2006 Überfälle auf syrisch-orthodoxe Aramäer im Tur Abdin stattgefunden haben (vgl. Eastern Star News Agency vom 5.9.2006). Dabei kam es zu Sach- aber auch Personenschäden. Ebenfalls dokumentiert ist in einer in der mündlichen Verhandlung eingeführten Auskunft der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 20. März 2007 ein Bombenanschlag gegen den Kirchenratsvorsitzenden von Midyat im Südosten der Türkei. Aus den vorliegenden Erkenntnismaterialien geht aber ebenfalls hervor, dass sich die Situation der Christen im Tur Abdin in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den 90-iger Jahren des letzten Jahrhunderts deutlich verbessert hat. Zum einen werden in vielen Dörfern Häuser, Kirchen und Klöster wieder hergerichtet und es kehren auch Familien freiwillig auf Dauer und nicht nur zu Urlaubszwecken in den Tur Abdin zurück. Zwar wird insbesondere in dem Reisebericht des Pfarrers Oberkampf über seinen Besuch im Tur Abdin im September 2006 die Sicherheitslage noch als sehr instabil und brüchig bezeichnet, trotz der auch damals schon vorhandenen Rückkehrer. Aus der "Auswertung einer Reise zu den Christen im Tur Abdin (Südosttürkei) und im Nordirak vom 26. Mai bis 5. Juni 2008" von Mitgliedern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, die das Gericht in das Verfahren eingeführt hat, ergibt sich aber, dass offenbar die Rückkehr syrisch-orthodoxer Christen und die Renovierung von Häusern auch zwei Jahre nach der Reise von Oberkampf anhält. Die vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vorgelegte "Kurze Information über die gegenwärtige Situation des Tur Abdin" vom 31. Oktober 2006 bezieht sich insoweit auf die Reise des Pfarrers Oberkampf im September 2006 und enthält keine neuen Erkenntnisse. Für das Jahr 2008 sind dem Gericht keine im Einzelfall verifizierten Übergriffe auf syrisch-orthodoxe Christen bekannt geworden. Insoweit erfolgte auch kein Vortrag des Klägerbevollmächtigten.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen einer syrisch-orthodoxen Glaubenszugehörigkeit - auf eine staatliche Verfolgung beruft sich auch der Klägerbevollmächtigte nicht - liegen nicht mehr vor. Diese setzt voraus, dass die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um [...]

Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten. Ausweislich des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 wird Misshandlung oder Folter allein auf Grund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, ausgeschlossen. Danach haben auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht zurückgekehrten abgelehnten Asylbewerbern keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. [...]