Familienangehörigen von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, die in der Türkei mit Haftbefehl gesucht werden oder die sich exponiert exilpolitisch betätigt haben, droht nicht mehr generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, sondern allenfalls unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls.
Familienangehörigen von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, die in der Türkei mit Haftbefehl gesucht werden oder die sich exponiert exilpolitisch betätigt haben, droht nicht mehr generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, sondern allenfalls unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet, denn der angegriffene Widerrufsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling vorliegen, ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. [...]
Der Klägerin droht in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einbeziehung in die politische Verfolgung von Angehörigen (Sippenhaft). Das Gericht hält nicht mehr an seiner Rechtsprechung fest, dass eine allgemeine Gefährdung regelmäßig angenommen werden kann für nahe Familienangehörige von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, wenn sie in der Türkei durch Haftbefehl gesucht werden oder aber wenn sie sich im Ausland exilpolitisch in einer Weise betätigt haben, die bei einer Gesamtwürdigung ein vergleichbares politisches Gewicht aufweist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A. -, juris, Rn. 438ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 20. Juni 2006 - 4 LB 56.02 -, UA S. 18f.). Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte, die früher traditionell in weitem Umfang eine Sippenhaft praktiziert haben, hat sich geändert: Obgleich die Vernehmungen von Angehörigen auch gegenwärtig noch mit Beschimpfungen und Schikanen wie etwa längeren Wartezeiten, bei denen dem Betroffenen keine Sitzgelegenheit zur Verfügung steht, verbunden sind, wird die Gefahr, dass physischer Druck und Folter angewendet werden, als gering eingeschätzt. Die Dauer der Vernehmungen beschränkt sich üblicherweise auf wenige Stunden. Auch mit Durchsuchungen von Wohnung und Arbeitsplatz muss weiterhin gerechnet werden, wobei die Bewohner mitunter herumgeschubst und beleidigt werden; Hausrat und Nahrungsvorräte werden aber - anders als früher - nur durcheinander gebracht, nicht vernichtet. Schließlich ist auch mit der gründlichen Durchsuchung von Gepäck und Personen zu rechnen (Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und Gutachten vom 10. Dezember 2005 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof; Taylan, Gutachten vom 26. Juni 2004 an VG Frankfurt/Oder). Derartige kurzfristige Maßnahmen mögen zwar in jedem Einzelfall für den Betroffenen sehr unangenehm sein; sie versetzen ihn jedoch nicht in die für die Gewährung von Asyl bzw. Abschiebungsschutz vorauszusetzende ausweglose Lage. Seit dem Jahr 2003 ist zudem kein Fall bekannt geworden, in dem es im Zuge von Ermittlungen zu Übergriffen gegen Familienangehörige gekommen ist (Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 21. November 2005). Die Änderung der üblichen Vorgehensweise schließt nicht aus, dass es in einigen Fällen dennoch zu asylerheblichen Übergriffen kommen kann. Die Annahme, dass derartige Übergriffe weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, ist hingegen nicht mehr gerechtfertigt, weil es an einer hinreichenden Zahl von Referenzfällen aus jüngerer Zeit fehlt. [...] Dieser Befund lässt nur den Schluss zu, dass sich auch die Praxis des Zugriffs auf Familienangehörige einer gesuchten Person verändert hat. Die Wahrscheinlichkeit, im Zusammenhang mit der Suche nach einem engen Familienangehörigen Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden, ist insgesamt gesunken, auch wenn derartige Übergriffe nach wie vor stattfinden; ob und wer zukünftig davon betroffen sein wird, lässt sich nicht generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Daher bedarf es, wenn ein Asylbewerber geltend macht, von Sippenhaft betroffen oder bedroht zu sein, einer einzelfallbezogenen Würdigung seines bisherigen Vorbringens zu der bereits erlittenen Sippenhaft bzw. zu den konkreten Umständen, aus denen er schließt, dass ihm ausnahmsweise - abweichend von der wie dargelegt geänderten Verfolgungspraxis - nach der Rückkehr in die Türkei dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Sippenhaft droht. Dies zugrunde gelegt droht dem Kläger in der Türkei keine Sippenhaft. Er macht nicht geltend, vor seiner Ausreise bereits Opfer von Sippenhaft im oben beschriebenen Sinne geworden zu sein. Sein Vorbringen gibt auch keinen Anlass zu der Annahme, dass ihm im Falle seiner Rückkehr im Zusammenhang mit der Verfolgung eines nahen Angehörigen Verfolgung drohen könnte. [...]