VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 24.09.2008 - 8 K 829/07.A - asyl.net: M14650
https://www.asyl.net/rsdb/M14650
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, komplexe Traumafolgestörung, Persönlichkeitsstörung, Borderline-Syndrom, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr, fachärztliche Stellungnahme, medizinische Versorgung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage mit dem allein noch streitgegenständlichen Begehren auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zulässig und begründet. [...]

Es ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr der Klägerin in die Russische Föderation zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum Eintritt einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde. [...]

Ausweislich des Gutachtens leidet die Klägerin gegenwärtig an einer komplexen Traumafolgestörung, die diagnostisch als emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3 ICD-10) mit Merkmalen des impulsiven und des Borderline-Typus zu fassen ist. Im Falle einer Rückführung der Klägerin in die Russische Föderation sei - so der Befund der Gutachtenstelle - kurzfristig mit einer akuten lebensbedrohlichen Verschlimmerung ihres Gesundheitszustands zu rechnen, die hinsichtlich des Schweregrades einer Retraumatisierung gleichkäme. Insbesondere käme es bei einer Rückführung zu einer Zuspitzung der Angstkomponente der Erkrankung, wobei ein psychotischer Schub nicht auszuschließen sei. Ferner seien nicht zu kontrollierende Impulsausbrüche der Klägerin zu erwarten, so dass auch von massiven selbstschädigenden Handlungen bis hin zu suizidalem Verhalten auszugehen sei.

Die Kammer folgt der Einschätzung der Gutachtenstelle sowohl hinsichtlich Art und Umfang der diagnostizierten psychischen Störung als auch hinsichtlich der Prognose der daraus folgenden Gefahren im Falle einer Rückführung in das Heimatland der Klägerin. Die diesbezüglichen Ausführungen sind insgesamt schlüssig und überzeugend, auch wenn die traumatischen Erlebnisse der Klägerin im Erwachsenenalter, die neben den traumatischen Erlebnissen in Kindheit und Jugend als mitursächliche Faktoren für die komplexe Traumastörung benannt werden, unter Hinweis auf die krankheitsbedingten Besonderheiten im Aussageverhalten der Klägerin und der daraus folgenden Einschränkungen bezüglich einer abschießenden Bewertung der Glaubhaftigkeit der im Einzelnen geschilderten Verfolgungsereignisse nicht näher spezifiziert werden, sondern vielmehr allgemein als "traumatische Verfolgungserlebnisse" bezeichnet werden. Denn wie die Gutachtenstelle nachvollziehbar darlegt hat, sei vor dem Hintergrund der weiteren Krankheitsentwickung und der im Rahmen des diagnostischen Gesprächs festgestellten traumaspezifischen Symptomatik, die auch durch die ergänzenden testdiagnostischen Verfahren (SKID, PTSS-10 und BDI) bestätigt wurde, mit Sicherheit davon auszugehen, dass im Erwachsenenalter der Klägerin weitere traumatische Erlebnisse stattgefunden haben. Auch mit Blick darauf, dass sich jedenfalls zu dem wesentlichen Kerngeschehen ein kohärentes und konstantes Gesamtbild ergebe, seien die von der Klägerin geschilderten Ereignisse zumindest in ihren Eckpunkten als erlebnisfundiert zu werten.

Dass die medizinische Grundversorgung in der Russischen Föderation im Grundsatz gewährleistet und auch die Behandlung psychischer Erkrankungen, einschließlich Traumastörungen, zumindest in größeren Städten grundsätzlich möglich ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13. Januar 2008 (Stand: Dezember 2007); Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Saarland vom 29. Juni 2002, Az.: - 508-516.80/39792 - und der Deutschen Botschaft an das VG Köln vom 18. März 2002, Az. RK 516.80/3 -), steht der Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im vorliegenden Fall nicht entgegen.

Denn mit Blick auf die auch insoweit schlüssigen Ausführungen im Gutachten der ... handelt es sich wegen der besonderen Umstände im Fall der Klägerin nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze um einen Ausnahmefall, da die Klägerin aufgrund ihres individuellen spezifischen Krankheitsbildes nicht auf die grundsätzlich in der Russischen Föderation bestehenden Behandlungsmöglichkeiten - eine individuelle Verfügbarkeit zudem unterstellt- verwiesen werden kann. Nach dem Befund der Gutachtenstelle sei selbst für den Fall des Vorhandenseins adäquater psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten für die Klägerin in der Russischen Föderation mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer lebensbedrohlichen Verschlimmerung der Krankheit zu rechnen. Dies sei vor dem Hintergrund des krankheitsbedingten Misstrauens der Klägerin zu sehen, das eine Behandlung durch Therapeuten im Heimatland ausschließe. [...]

Schließlich fehlt es hinsichtlich der im Gutachten prognostizierten Gefahren - entgegen der Auffassung der Beklagten - auch nicht an dem für die Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlichen Zielstaatsbezug. Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende lebensbedrohliche Verschlimmerung des Krankheitsbildes steht nach den Ausführungen der Gutachtenstelle nicht allein im Zusammenhang mit der Abschiebung selbst, namentlich mit dem Verlust des stabilisierenden Umfeldes in Deutschland, sondern ist - was im vorliegenden Zusammenhang als ausreichend anzusehen ist - jedenfalls auch auf die massiven Ängste, die die Klägerin im Hinblick auf ein Leben in ihrem Heimatland entwickelt hat, sowie auf die angesichts ihres spezifischen Krankheitsbild - wie dargelegt - nicht eröffneten Behandlungsmöglichkeiten in der Russischen Föderation zurückzuführen und damit letztlich auf zielstaatsbezogene Umstände. [...]