VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 14.10.2008 - 4 A 876/07 - asyl.net: M14655
https://www.asyl.net/rsdb/M14655
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Verfolgungshandlung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten i.S.v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylanerkennung der Kläger sowie die getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Recht widerrufen. [...]

Das erkennende Gericht geht seit seinen Grundsatzentscheidungen vom 31. März 2008 (4 A 1991/03 und 4 A 2212/03) in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (z.B. Urteile vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - und vom 26. November 2007 - 11 LB 15/06 -) davon aus, dass (selbst) glaubensgebundene Yeziden in ihren Hauptsiedlungegebieten im Südosten der Türkei keiner Gruppenverfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit mehr ausgesetzt und Rückkehrer derzeit vor politischer Verfolgung sogar hinreichend sicher sind. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Vorschriften der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - sog. Qualifikationsrichtlinie wobei dahingestellt bleiben kann, ob die einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie überhaupt im Rahmen der Prüfung des Asylgrundrechts nach Art. 16a GG heranzuziehen sind.

Wenn sich die genaue Zahl der im Südosten der Türkei lebenden Yeziden aufgrund divergierender Angaben der verschiedenen Stellen und Unwägbarkeiten (z.B. aufgrund des Umstandes, dass es Yeziden gibt, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, sich aber zeitweilig in der Türkei aufhalten) auch schwer feststellen lässt, so ist doch davon auszugehen, dass zumindest noch 500 Yeziden dauerhaft in der Türkei leben. [...] Nach Auswertung aller dazu vorliegenden Erkenntnisse lässt sich nicht feststellen, dass es in den letzten Jahren zu so dicht und eng gestreuten Verfolgungsschlägen gekommen ist, dass jedes Gruppenmitglied damit rechnen müsste, alsbald in eigener Person betroffen zu werden.

Dass sich die Situation für Yeziden in der Türkei im Vergleich zu den Jahren zwischen 1980 und 2000 beruhigt hat, ist letztlich unstreitig. [...] Derart dicht und eng gestreute Verfolgungsschläge gegen Yeziden, aufgrund derer davon ausgegangen werden müsste, jedes Gruppenmitglied werde alsbald in eigener Person betroffen werden, sind nicht festzustellen. Übergriffe gegen Yeziden in jüngster Zeit sind nicht bekannt geworden. Hätten sich solche zugetragen, so wäre hiervon nach Überzeugung der Kammer im Hinblick auf die Beobachtungstätigkeit der zahlreichen in der Türkei tätigen Menschenrechtsorganisationen, denen solche Geschehnisse nicht verborgen geblieben wären, und des Umstandes, dass auch die verschiedenen Yezidenorganisationen im Ausland eine erhebliches Interesse an der Veröffentlichung solcher Vorfälle haben dürften, auch berichtet worden (vgl. auch Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -). Hinzu kommt, dass der türkische Staat im Rahmen seines Bestrebens, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Europäische Union gerade auch in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen, zunehmend bereit und der Lage ist, Yeziden gegen Übergriffe Dritter zu schützen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass nicht-staatlichen Repressionsmaßnahmen Vorschub geleistet oder solche toleriert werden (vgl. im Einzelnen Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -).

Ob sich die Situation ändern würde, wenn eine Vielzahl von derzeit im Ausland lebenden Yeziden in die Türkei zurückkehren sollten, braucht die Kammer nicht zu entscheiden, weil die hier zu treffende Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG allein an der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auszurichten ist. Die bloße Möglichkeit, dass sich die politischen Verhältnisse in weiterer Zukunft verändern könnten und dann vielleicht für den Asylsuchenden die Gefahr politischer Verfolgung besteht, vermag einen Asylanspruch nicht zu begründen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 308.81 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27 und 37). Insoweit ändern auch die in der Türkei in Teilbereichen zu beobachtenden Tendenzen einer zunehmenden Islamisierung nichts an der getroffenen Verfolgungsprognose.

Weiterhin ist nicht festzustellen, dass Yeziden in der Türkei bei ihrer Religionsausübung unzumutbar behindert werden. Dies gilt auch insoweit, als durch Art. 10 Abs. 1b der Qualifikationsrichtlinie der Schutz vor religiöser Verfolgung auch auf die öffentliche Glaubensbetätigung ausgedehnt worden ist. Nach Auffassung der Kammer schützt die Qualifikationsrichtlinie allerdings nicht jedwede denkbare öffentliche Religionsausübung, sondern lediglich diese als solche. Dafür, dass es den Yeziden in der Türkei grundsätzlich nicht möglich ist, ihre Religion in der Öffentlichkeit auszuüben, ist nichts ersichtlich. So finden dort z.B. relativ häufig Beerdigungen von in Deutschland verstorbenen Yeziden statt, an denen regelmäßig auch andere, z.T. mitreisende Personen teilnehmen (vgl. nur Yezidisches Forum, Stellungnahme zur Situation der Yeziden in der Türkei vom 4. Juli 2006). Von Verhinderungen oder Störungen der Beerdigungszeremonien durch Moslems ist nichts bekannt geworden. Überdies zeichnet sich die yezidische Religion gerade dadurch aus, dass sie vom Wesen her eine Art "Geheimreligion" ist und nicht vor den Augen Ungläubiger und damit nicht im öffentlichen Bereich praktiziert wird. Die öffentliche Darstellung der eigenen religiösen Identität ist somit kein wesentliches hergebrachtes Element des yezidischen Glaubens (Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - und Beschluss vom 28. August 2008 - 11 LA 178/08 -). Die Kritik des Yezidischen Forums in seiner Anmerkung zum Urteil des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 17. Juli 2007, dass der verstorbene Gutachter Prof. Dr. Dr. Wießner den Begriff Geheimreligion und das Recht, die Religion dem Umfeld zu verschweigen, mit den Verhältnissen in der Türkei und anderen Ländern des nahen Ostens begründet habe, die Yeziden aber unter anderen Verhältnissen, wie sie z.B. in der Bundesrepublik Deutschland herrschten, die Möglichkeit der offenen und öffentlichen Religionsausübung und des freien Bekenntnisses als die eigentliche Befreiung ansähen, greift nicht durch. Hiermit hat sich das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Urteil vom 19. Dezember 2007 -1 A 3097/06, 1 A 3101/06, 1 A 3102/06, 1 A 3103/06 - ausführlich auseinandergesetzt. [...]

Diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts Hannover schließt sich das erkennende Gericht an.

Eine asylerhebliche Verletzung der Religionsausübung der Yeziden im Südosten der Türkei liegt auch nicht darin, dass dort nur noch wenige Sheiks bzw. Pirs leben. Zwar kommt der religiösen Betreuung durch einen Sheik oder Pir für ein funktionierendes Gemeindeleben der Yeziden eine erhebliche Bedeutung zu. Nicht jede Beeinträchtigung eines funktionierenden Gemeindelebens führt jedoch bereits zu einer Verletzung des religiösen Existenzminimums. Eine solche liegt erst dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9/03 -, BVerwGE 120, 16 ff.). Der Heimatstaat ist nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet. Dies gilt auch, wenn die religiöse Infrastruktur - wie bei den Yeziden - wegen vorangegangener, in der Vergangenheit liegender Verfolgungsmaßnahmen entfallen ist, hingegen gegenwärtig zielgerichtete Eingriffe betreffend die Gewährleistung der religiösen Betreuung nicht mehr feststellbar sind. Das Fehlen von Angehörigen der yezidischen Priesterstämme beruht nicht (mehr) auf staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Eingriffen, sondern ist die tatsächliche Folge der vergleichsweise geringen Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden sowie der Entscheidung der in das Ausland abgewanderten/geflüchteten yezidischen Würdenträger, nicht in die Türkei zurückzukehren (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - und Beschluss vom 28. August 2008 - 11 LA 178/08 -, OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Februar 2006 - 15 A 2119/02.A -). Darüber hinaus besteht eine Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen nach Art. 10 Abs. 1b der Qualifikationsrichtlinie nur, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte droht, wie sich aus dem Zusammenspiel von Art. 9 mit Art. 10 der Richtlinie ergibt. Eine derartige schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte ist jedoch in Bezug auf die geistliche Betreuung nicht zu erkennen. In den letzten Jahren sind Peshimame aus Deutschland zumindest zeitweise in die Türkei zurückgekehrt, um die dort lebenden Yeziden zu betreuen. Darüber hinaus dürften auch Kontakte zu Angehörigen der yezidischen Priesterstände in den Nachbarländern Irak und Syrien bestehen, wobei es allerdings nach dem Vorstehenden auf diese zusätzlichen Kontaktmöglichkeiten nicht entscheidend ankommt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2008 - 11 LA 178/08 - ) . [...]

Aus den Ausführungen unter Punkt 1. ergibt sich zugleich, dass auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. [...]