VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 02.09.2008 - 5 A 537/06 As - asyl.net: M14661
https://www.asyl.net/rsdb/M14661
Leitsatz:

Gefahren infolge der fehlenden Finanzierbarkeit einer erforderlichen medizinischen Behandlung stellen keine allgemeinen Gefahren gem. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG dar.

 

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, multiple Erkrankungen, Herzinsuffizienz, Hypertonie, Lungenerkrankung, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Adipositas, Bauchsandhernie, Anpassungsstörung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gefahren infolge der fehlenden Finanzierbarkeit einer erforderlichen medizinischen Behandlung stellen keine allgemeinen Gefahren gem. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 28. März 2006 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Abänderung des asylrechtlichen Erstbescheides vom 21. Juni 2002 bezüglich der Feststellung, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, abgelehnt hat. [...]

Nach diesen Maßstäben hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in die Republik Kosovo alsbald eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten hat, so dass die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Wie sich aus dem amtsärztlichen Gutachten des Landkreises ... - Gesundheitsamt - vom 10. Januar 2007 sowie den weiter vorliegenden ärztlichen Berichten ergibt, leidet die Klägerin unter einer Mehrzahl von schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. So besteht bei der Klägerin eine dekompensierte Linksherzinsuffizienz, eine Hypertonie, eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, ein Diabetes mellitus, eine gemischte Hyperlipidämie, eine Adipositas, eine Bauchwandhernie sowie der Verdacht auf eine Anpassungsstörung. Die Klägerin benötigt eine aus insgesamt zwölf verschiedenen Medikamenten bestehende Medikation. Dabei bildet die Arzneimitteleinnahme den Schwerpunkt der Behandlung der Klägerin. Ein Abbruch der medikamentösen Behandlung würde zu lebensbedrohlichen Zuständen bei der Klägerin führen. Die fehlende medikamentöse Behandlung würde eine weitere Zunahme der Linksherzinsuffizienz, ein Entgleiten des Hypertonus, eine zunehmende Ödembildung und eine Verschlechterung der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, eine Stoffwechselentgleisung im Rahmen des Diabetes mellitus bewirken, wobei letale Folgen zu befürchten seien. Es kommt hinzu, dass sich die Befunde in den letzten Jahren nach Darstellung der Amtsärztin ohnehin stetig verschlechtert haben. Selbst wenn die genannten Erkrankungen der Klägerin im Kosovo medizinisch behandelbar sind, weil die Klägerin die entsprechenden Medikamente im Kosovo erhalten kann, fehlt es jedoch an der erforderlichen Zugänglichkeit zu diesen Medikamenten. Wie sich aus der Aufstellung der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin, Dr. med. ..., vom 25. Februar 2008 ergibt, fallen nunmehr Medikamentenkosten in einer Gesamthöhe von rund 860,00 Euro für die Klägerin an. Selbst wenn berücksichtigt wird, dass ein Teil der Medikamente kostenfrei mit einer geringen Eigenbeteiligung im Kosovo bezogen werden können und der genannte Gesamtbetrag von 860,00 Euro sich auf mehrere Monate erstrecken dürfte, fehlt es in Anbetracht der persönlichen Verhältnisse der Klägerin und der wirtschaftlichen Lage in der Republik Kosovo - so beträgt die Sozialhilfe für Einzelpersonen lediglich 35,00 Euro monatlich und für Familien bis zu 35,00 Euro (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien - Kosovo - vom 15.02.2007) - an der fehlenden finanziellen Zugänglichkeit zu den benötigten Medikamenten. Dementsprechend ist eine Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland mit der Gefahr einer Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität verbunden.

Dies erfüllt die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Soweit die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 28. März 2006 einen strengeren Maßstab für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anlegt, kann dem nicht gefolgt werden. Die Beklagte fordert insoweit, dass für die Annahme einer zielstaatsbezogenen Gefahr mehr als nur die Möglichkeit einer erheblichen Verschlimmerung der Krankheit nach einer Rückkehr in das Herkunftsland zu erwarten sei. Ein Abschiebungsverbot könne nur bei Vorliegen von außergewöhnlichen körperlichen oder psychischen Schäden mit lebensbedrohenden Zuständen, also nur bei existenziellen Gesundheitsgefahren gegeben seien. Dieser Beurteilungsmaßstab dürfte darauf zurückzuführen seien, dass die Beklagte die Fälle der fehlenden Zugänglichkeit einer an sich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen Gründen als Auswirkungen einer allgemeinen Gefahr erachtet, bei der die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG grundsätzlich ausgeschlossen ist und nur bei ganz extremen Gefahrenlagen ein Abschiebungsverbot begründen kann. Dieser Beurteilungsmaßstab ist im vorliegenden Fall jedoch unzutreffend. Nach der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung sind zielstaatsbezogene Krankheitsfolgen in der Regel als individuelle Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzusehen. Nur ausnahmsweise können sie als eine allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG qualifiziert werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 -, juris). Dies kommt bei einer großen Anzahl potenziell Betroffener und einem ausländerpolitischen "Leitentscheidungsbedürfnis" in Betracht (vgl. BVerwG, a.a.O., m.w.N.). Angesichts der individuellen Prägung von Krankheiten der vorliegenden Art bei der Klägerin ist die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anwendbar mit der Folge, dass die strengeren Voraussetzungen für die Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht maßgeblich sind. Es kann deshalb offenbleiben, ob nicht sogar die genannten strengeren Voraussetzungen im Fall der Klägerin erfüllt sind. [...]