Flüchtlingsanerkennung einer libanesischen Frau nach Todesdrohungen ihres Bruders wegen ihres Lebenswandels; kein staatlicher Schutz vor "Ehrenmorden" im Libanon; kein Schutz durch Frauenhäuser; Frauen, die sich nicht der für sie im Heimatland durch Tradition und gesellschaftliche Verhältnisse vorgezeichneten Diskriminierung und Entrechtung unterwerfen, stellen eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. Art. 10 Abs. 2 Bst. d der Qualifikationsrichtlinie dar.
Flüchtlingsanerkennung einer libanesischen Frau nach Todesdrohungen ihres Bruders wegen ihres Lebenswandels; kein staatlicher Schutz vor "Ehrenmorden" im Libanon; kein Schutz durch Frauenhäuser; Frauen, die sich nicht der für sie im Heimatland durch Tradition und gesellschaftliche Verhältnisse vorgezeichneten Diskriminierung und Entrechtung unterwerfen, stellen eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. Art. 10 Abs. 2 Bst. d der Qualifikationsrichtlinie dar.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten auf Feststellung dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Libanon vorliegen und auf deren Verpflichtung, ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG zuzuerkennen.
Gemäß § 5 Abs. 1 AsylVfG entscheidet das Bundesamt über Asylanträge einschließlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4, 2. Halbs.).
Die Klägerin beruft sich auf eine neue Sachlage und dazu auf neue Beweismittel. Sie macht geltend, ihr im Libanon lebender Bruder habe ihren Lebenswandel in Deutschland als mit dem Islam unvereinbar missbilligt, erklärt, sie beschmutze die Ehre der Familie und sie deshalb mit dem Tode bedroht.
Das Gericht ist von der Wahrheit dieser Angaben der Klägerin überzeugt, die untermauert werden durch einen Brief ihrer Mutter, den sie bei ihrer informatorischen Anhörung fristgerecht im Sinne von § 51 Abs. 3 VwVfG vorgelegt hat.
Zwar steht inzwischen fest, dass die Klägerin im Asylerstverfahren unrichtige Angaben gemacht hat, etwa zu ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Einreiseweg und dem Besitz von Personalpapieren. Das Gericht ist - auch nach dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - dennoch davon überzeugt, dass ihre Angaben im vorliegenden Verfahren wahr sind. Schon in der Art der Darstellung, dem Detailreichtum und der Differenzierung unterscheiden sie sich wesentlich von den Angaben im Erstverfahren. [...] Ebenso überzeugend ist, dass sich die Mutter der Klägerin und andere Verwandte, denen die Verhältnisse in Deutschland bekannt sind, im Bewusstsein der Brisanz der Situation versucht haben, auf den Bruder einzuwirken. Dass die Konsequenzen Streit und der Hinauswurf der Mutter aus dem Haus der Familie waren, erscheint realistisch. Die Beanstandung in dem angefochtenen Bescheid, die Klägerin habe bei ihrer informatorischen Anhörung zunächst von der Todesdrohung berichtet, dann aber erklärt, ihr Bruder werde sie bei einer Rückkehr in ein Zimmer einsperren, rechtfertigt angesichts des Gesamtzusammenhangs nicht die Folgerung, die Klägerin nehme die Todesdrohung nicht ernst. Denn in dem vorausgehenden Satz hatte die Klägerin gesagt, sie wisse nicht, was ihr Bruder mit ihr machen werde. Dass die Klägerin die Möglichkeit berücksichtigte, ihr Bruder werde seine Todesdrohung nicht umsetzen, heißt nicht, dass sie die Drohung nicht ernst nimmt bzw. diese nicht ernst zu nehmen ist. Gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin spricht auch nicht, dass sie gegenüber den sie behandelnden Ärzten in erster Linie über die Angst um den Verlust ihrer Kinder und nicht über die ihr gegenüber ausgesprochene Todesdrohung berichtet hat. Dass für die Klägerin die Angst im Vordergrund steht, man werde ihr im Libanon die Kinder wegnehmen (vgl. zur Rechtslage und Praxis VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.05.2003 - A 2 S 711/01 -, zitiert nach juris), zieht sich wie ein roter Faden durch das in der beigezogenen Akte der Ausländerbehörde dokumentierte Verhalten der Klägerin. Dies zeigt aber lediglich, dass sie sich selbst in den Hintergrund stellt, wenn es um ihre Kinder geht.
Eine Todesdrohung gegenüber einer Frau wegen deren Versuches, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, stellt eine im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 c AufenthG erhebliche nichtstaatliche Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe" dar, nämlich eine "allein an das Geschlecht" anknüpfende "Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit und Freiheit" dar, wobei der Begriff "Geschlecht" nicht die rein biologische Zuordnung meint, sondern auf die durch gesellschaftlichen Regeln bestimmte soziale Rolle abstellt, die den Angehörigen des einen oder anderen Geschlechts zukommt. Frauen, die sich nicht der von der für sie in ihrem Heimatland maßgeblichen Gesellschaft durch Tradition und gesellschaftliche Verhältnisse vorgezeichnete Diskriminierung und Entrechtung unterwerfen, weisen auch eine hinreichend abgegrenzte Identität als Gruppenmitglieder im Verhältnis zu der sie umgebenden Gesellschaft im Sinne von Art. 10 Abs. 2d , 2. Spiegelstrich, der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 - Qualifikationsrichtlinie - (ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, s. 12) auf (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 26.06.2007 - A 6 K 394/07 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 18.08.2006 - 21 K 3768/04.A -; VG Freiburg, Urteil vom 26.01.2005 - A 1 K 11012/03 -; alle zitiert nach juris; Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Losebl., Stand Nov. 2006, § 19 Rdnr. 71 ff., 100 ff., jeweils m.w.N.). Auch wenn es sich bei dem Bruder der Klägerin um eine Einzelperson handelt, kann es sich um einen "nichtstaatlichen Akteur" im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG handeln (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, BVerwGE 126, 243, 251 [Rdnr. 23]; a.M. OVG Schleswig, Urteil vom 14.12.2006 - 1 LB 67/05 -, zitiert nach juris).
Es handelt sich um eine nichtstaatliche Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG, da aufgrund der Erkenntnislage davon ausgegangen werden muss, dass der libanesische Staat die Klägerin vor einer solchen Todesdrohung zu schützen nicht willens bzw. nicht in der Lage ist. Nach übereinstimmender Auskunftslage ist der libanesische Staat nicht in der Lage, einer Frau umfassenden Schutz gegen einen angedrohten "Ehrenmord" zu gewähren. Zwar gibt es seit 1999 bei "Ehrenmord" offiziell keine Begnadigung mehr. Im Jahr 2002 und 2003 wurde dennoch in den libanesischen Medien von monatlich zwei bis drei Ehrenmorden berichtet (wobei die Dunkelziffer deutlich höher sein soll). Der "Ehrenmord" wird in der muslimischen Gesellschaft aber weiterhin akzeptiert. Vor Gericht wird weiterhin das "Ehre"-Motiv berücksichtigt, so dass für Ehrenmorde nicht die für Mord vorgesehene Todesstrafe verhängt wird (vgl. ai, Report 2008, Stichwort: Libanon, S. 257 f.; SFH [Michael Kirchner], Libanon: "Ehrenmord", 26.02.2004; ai, 12.06.2004 mit Anlage an VG Chemnitz; AA, 24.07.2003 an VG Chemnitz). Zwar berichtet amnesty international (Report 2008, a.a.O., S. 258), der schiitische Geistliche Scheich Muhammad Hussein Fadlallah - die Klägerin und ihr Bruder gehören der schiitischen Glaubensrichtung an - habe im August 2007 eine Fatwa gegen Tötungen im Namen der Familienehre ausgesprochen. Welche Auswirkungen dies hat, ist aber noch nicht abzusehen, zumal bereits im Jahre 2004 davon berichtet wurde, Scheich Scharifi, Mitglied des Höchsten Islamischen Rates der Schiiten, habe Ehrenmorde als auf falscher Interpretation der islamischen Gesetze beruhend bemängelt (vgl. ai, 12.06.2004, a.a.O., Anlage).
Die Gefahr, dass der Bruder der Klägerin seine Drohung realisiert, besteht auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit. Es mag sein, dass die Klägerin selbst daran zweifelt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ihr Bruder seine Drohung in die Tat umsetzt. Zu diesem Problem hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 05.11.1991 (BVerwGE 89, 162, 167) ausgeführt: "Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftigen Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber ... eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ... nur eine mathematische Wahrscheinlichkeit von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Falle reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus .... Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen ... ." Angesichts dessen, dass ihr Bruder diese Drohung mehrfach geäußert hat und ihre sie verteidigende Mutter aus dem Haus gewiesen hat, ist die Möglichkeit der Realisierung der Drohung aber prognostisch als höchst real zu bewerten.
Es ist weiter davon auszugehen, dass die Klägerin keine realistische Möglichkeit hat, der Verfolgung durch ihren Bruder zu entgehen. Die von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (a.a.O.) angesprochene Möglichkeit, anonym in den Libanon zurückzukehren oder Langzeitschutz in einem Frauenhaus zu suchen und sich unabhängig eine eigene soziale Existenz aufzubauen, ist mit so vielen Unwägbarkeiten und Risiken behaftet, dass sie für die Klägerin nicht in Betracht kommt, zumal dann, wenn sie, wie in dem angefochtenen Bescheid ausgeführt, auf ein Frauenhaus in Beirut verwiesen wird, in dem Ort, in dem ihre Familie und ihr Bruder leben. Im Übrigen heißt es dazu in der Anlage zur Auskunft von amnesty international vom 12.06.2004 (a.a.O.): "... Aber es besteht Hoffnung: Demnächst wird die Caritas in Beirut des erste Frauenhaus bauen ...". Abgesehen davon besteht auch sonst keine ausreichend sichere inländische Fluchtalternative. Für eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern dürften sehr begrenzte Überlebensmöglichkeiten nur in den großen Städten bestehen; auch dort wird sie sich mit Wahrscheinlichkeit auf Dauer vor einem die "Familienehre" wiederherstellen wollenden männlichen Verwandten nicht verbergen können (vgl. ai, 12.06.2004, a.a.O.). [...]