[...]
Die Klage ist zulässig und begründet. [...]
Die Klägerin hat unter Aufhebung der sie betreffenden Regelung in Ziffer 2. des Bescheides Anspruch auf die Feststellung, dass hinsichtlich ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. [...]
Die Klägerin leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) sowie an einer reaktiven Depression (ICD-10 F32.2); die Erkrankungen sind so schwer, dass eine Rückkehr nach Algerien - ungeachtet dortiger Behandlungsmöglichkeiten - zu einer Retraumatisierung und damit völligen Dekompensation der Klägerin führen würde. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der sachverständigen Stellungnahme und Zeugenaussage der Frau ... - Dr. Fachärztin Psychiatrie - Psychotherapie. Zwar handelt es sich bei Frau Dr. um die derzeit behandelnde Ärztin. Dies begründet jedoch keine Zweifel an den von ihr gestellten Diagnosen (zur grundsätzlichen Aussagekraft von Stellungnahmen des behandelnden Therapeuten vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. September 2006 - 13 A 1740/05.A -, InfAuslR 2006, 487 ff.).
Denn anders als im (typischen) Fall der Stellungnahme des behandelnden Arztes und Psychotherapeuten hat die Zeugin glaubhaft bekundet, dass sie die - nach der bislang nur angestrebten Stabilisierung der Patientin - eigentliche Therapie nicht selbst durchführen werde, weil ihre Französischkenntnisse hierfür nicht ausreichend seien. [...] Ein finanzielles Interesse der sachverständigen Zeugin an der Weiterbehandlung der Klägerin ist damit auszuschließen. Hinzu kommt, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung durch Herrn Dr. ... vom sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes ... mit Stellungnahme vom 2. Juli 2008 bestätigt worden ist. [...]
Es ist auch auszuschließen, dass die Klägerin ihre Erkrankungen bzw. die Symptome simuliert. Sie ist seit dem 21. Mai 2007, das heißt bereits fast 1 1/2 Jahre in regelmäßiger, etwa 4-wöchentlicher Behandlung durch die sachverständige Zeugin. Die Behandlung besteht seitdem in stützenden psychiatrischen Gesprächen sowie Medikamenteneinnahme. Gleichzeitig war und ist sie in engmaschiger Betreuung durch die Flüchtlingshilfe, vornehmlich Frau .... Des weiteren erhält sie ambulante psychiatrische Pflege durch den Verein für psychosoziale Dienstleistungen. Es ist davon auszugehen, dass es in dieser langen Zeit der Zeugin wie auch den beteiligten Pflegekräften und ehrenamtlichen Helfern aufgefallen wäre, wenn die Klägerin unter den Einschränkungen, die mit den oben genannten Diagnosen im Alltag einhergehen, wie depressive Befindlichkeit, starke Erschöpfung, Bewusstseins- und Erinnerungslücken, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen nicht wirklich litte, sondern diese nur vorspielte. [...]
Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass sich die Erkrankung der Klägerin bei einer Rückkehr nach Algerien wesentlich verschlechtern würde.
Dabei kann dahinstehen, ob in Algerien ein - dem hier für die Klägerin installierten entsprechendes - System der engmaschigen ärztlichen und sozialen Betreuung einschließlich medikamentöser Versorgung von Menschen mit schweren Traumata besteht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 29. Januar 2008, S. 21; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 27. März 2007; ACCORD, Anfragebeantwortung vom 28. August 2007) und dieses Netz der Klägerin auch - trotz finanzieller und/oder persönlicher Hürden - zur Verfügung stünde (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 29. Januar 2008, S. 21).
Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre der Klägerin eine Rückkehr nach Algerien nicht möglich, ohne dass sich ihr Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bereits eine Aus-/Einreise nach Algerien und die damit verbundene - seelische - Konfrontation mit der möglichen Verwirklichung ihrer Ängste (Verlust ihres Sohnes an die Familie ihres Mannes; Auseinandersetzungen mit ihrer Familie über die Tatsache, dass sie nicht mehr mit ihrem Ehemann zusammenlebt; die Notwendigkeit, sich dort als alleinstehende Frau zurecht zu finden) nicht aushalten würde. Nicht nur die Angaben der Zeugin, auch diejenigen der Klägerin zur Krankheitsursache sind schlüssig. Soweit die Klägerin bei der ersten Anhörung durch das Bundesamt im Jahr 2003 nicht dargestellt hat, was nach Einschätzung der Zeugin Auslöser der Traumatisierung gewesen ist, nämlich dass 1996 ein Bombenanschlag auf das Büro ihres Arbeitgebers ausgeübt wurde, so vermag dies keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu begründen. Denn Thema der Anhörung beim Bundesamt war der konkrete Ausreiseanlass und das waren die von der Klägerin und ihrem Ehemann geschilderten Todesfälle in der Familie. Zudem hat die Klägerin glaubhaft bekundet, dass sie selbst Algerien damals nicht verlassen wollte, sondern dass die Ausreise der Entschluss ihres Mannes gewesen sei. [...]
Aus den Angaben der Zeugin ergibt sich, dass eine Rückkehr nach Algerien mit Sicherheit zu einer Retraumatisierung und völligen Dekompensation der Klägerin und damit zur Notwendigkeit einer stationären psychiatrischen Behandlung führen würde. Unerheblich ist dabei, dass die Zeugin nicht prognostizieren konnte, in welcher Form sich die Dekompensation (psychotische Entwicklung, suizidale Handlungen oder absolute Affektstarre) äußern würde. Denn jede dieser Entwicklungen für sich genügt, um das Merkmal einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung zu erfüllen. [...] Wie die sachverständige Zeugin überzeugend dargestellt hat, ist für die Beurteilung der Ängste der Klägerin und der weiteren Entwicklung der Krankheit bei Rückkehr grundsätzlich die subjektive Sicht maßgeblich. Dessen ungeachtet sei angemerkt, dass die Ängste der Klägerin vor einer Rückkehr nach Algerien einen durchaus realen Hintergrund haben. Denn Algerien ist trotz eines Diskriminierungsverbots in der Verfassung nach wie vor stark von patriarchalischen Strukturen geprägt. Auch das von islamischen Grundsätzen geprägte Familien- und Erbrecht bewirkt trotz der im März 2005 verabschiedeten Reform des Familiengesetzes eine rechtliche und faktische Diskriminierung von Frauen, insbesondere ist die lebenslange Vormundschaft "Tutelle" durch ein männliches Familienmitglied nicht abgeschafft worden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 29. Januar 2008, S. 15, 16; zur Situation von Frauen allgemein vgl. auch U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2007 vom 11. März 2008, S. 13 ff., www.state.gov).