Kein Widerruf des Abschiebungsverbots von Hindus und Sikhs aus Afghanistan.
Kein Widerruf des Abschiebungsverbots von Hindus und Sikhs aus Afghanistan.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die Klage ist im Hauptantrag zulässig und begründet. Der Widerruf des festgestellten Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG a.F. ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. [...]
Eine solche individuelle schwerwiegende Gefahr für Leib und Leben droht den Klägern auch jetzt noch bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Es ist zu befürchten, dass sie dort nicht in der Lage sein werden, für ihre Existenz zu sorgen und zu überleben.
Aus den dem Gericht vorliegenden Auskünften und Stellungnahmen über die derzeitige Situation in Afghanistan, insbesondere aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.3.2008 und dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Danesch vom 23.1.2006, ergänzt durch seine Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Oldenburg vom 9.5.2007, ist die Wirtschaftslage in Afghanistan nach wie vor desolat. Es gibt kaum bezahlbare Wohnungen, die Arbeitslosenquote beträgt ca. 80 % und die Kriminalität ist enorm angewachsen. Staatliche und soziale Sicherungssysteme sind nicht bekannt, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gibt es nicht. Selbst nach Auskunft des Auswärtigen Amtes stoßen Rückkehrer auf große Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlen. In diesem Fall ist es für Rückkehrer praktisch unmöglich, sich eine Existenz aufzubauen. Noch schwieriger sind die Verhältnisse für Rückkehrer wie die Kläger, die der Volksgruppe der Hindus oder Sikhs angehören. Da sie von der muslimischen Bevölkerung als Atheisten und Götzendiener betrachtet werden, finden sie keine Aufnahme in den von Muslimen vorgesehenen Flüchtlingslagern. Als einzige Zufluchtsmöglichkeit bleiben ihnen die im Land befindlichen Tempelanlagen, wo sie ihr Leben in Isolation von der Allgemeinheit fristen. Ein Großteil der Hindu- und Sikhgemeinden wurde bereits durch die Mudhaheddin zerschlagen und aus dem Land vertrieben. Häuser und Grundbesitz der afghanischen Hindus und Sikhs wurde zum großen Teil enteignet. Die Versorgung der Hindus und Sikhs mit einem existentiellen Minimum an Lebensmitteln ist ungesichert. Die Tempel versuchen ihre Gemeindemitglieder durch Mittel aus Almosen zu unterstützen, doch diese sind sehr gering und retten die Bewohner kaum vor dem Verhungern. Angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land kann die Versorgung bedürftiger Menschen nicht vollständig von internationalen Hilfsangeboten aufgefangen werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Organisationen ihre Aktivitäten aufgrund von Sicherheitsbedenken immer stärker einschränken müssen und die Bereitschaft zu einem weiteren Engagement abnimmt.
Maßgeblich sind allerdings die Umstände des Einzelfalles. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass die Kläger nach ihrem glaubhaften Vortrag in der mündlichen Verhandlung, der auch mit ihren früheren Bekundungen übereinstimmt, im Lande über keine Verwandtschaft mehr verfügen, die sie auffangen und unterbringen könnte. Dies gilt auch für eine Rückkehr nach Kabul. Angesichts der langen Zeit, die sie außer Landes waren, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie noch ein soziales Netz vorfinden würden, welches sie jedenfalls in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr aufnehmen könnte. Deshalb ist auch glaubhaft, dass das von der Familie und dem Kläger früher betriebene Import-Export-Geschäft ... nicht mehr existiert. Die Ehefrau des Klägers dürfte im Falle ihrer Rückkehr nach Kabul ohnehin nicht arbeiten. Angesichts der erzwungenen Zurückgezogenheit, in der Hinduangehörige sich in Kabul nur bewegen können, ist nicht ersichtlich, in welcher Weise der Kläger sich und seine Frau ernähren sollte. Unter diesen Umständen muss davon ausgegangen werden, dass die Kläger sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich in extremer Lebensgefahr befinden würden. Somit liegen die Voraussetzungen, die unter der Geltung des ehemaligen Ausländergesetzes zu der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG geführt hatten, im Ergebnis nach wie vor, vor. [...]